NachrufKölner Schauspielerin infiziert sich in Flüchtlingsheim mit Corona und stirbt

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Figen Canatalay auf der Bühne des Arkadas Theaters.

Köln – „Wie viele Kinder hat ihre Mutter?“, fragt die Sacharbeiterin auf dem Arbeitsamt. Die junge Frau antwortet: „Eins. Die anderen elf sind Mädchen.“ Weil sie keine Ausbildung hat, aber immer für den Mann verfügbar ist, erhält die junge Frau am Ende des Gesprächs doch noch einen Job: als Prostituierte im Pascha auf der Hornstraße.

Ironische Kritik an Kopftüchern

Figen Canatalay, charismatische Anführerin des Putzfrauen-Kabaretts vom Ehrenfelder Arkadas-Theater, kann auch noch härter: Wer für Kopftücher sei, sollte doch bitte auch Beschneidungen von Frauen befürworten, ruft sie in die Säle. „Das müssen sie akzeptieren! Andere Länder, andere Sitten, oder? Sie sind doch tolerant!" Im Übrigen sei es „nie falsch, etwas auf dem Kopf zu haben, wenn schon nichts drin ist“.

Als Mitgründerin des Arkadas-Theaters hält Figen Canatalay der deutschen Mehrheitsgesellschaft wie der türkischen Machogesellschaft einen Spiegel vor. Das Ensemble tourt durch Europa, tritt in Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in Australien auf. Canatalay spielt in fast allen Stücken die Hauptrolle. Auf der Bühne fühlt sie sich zu Hause, obwohl sie nie einen Schauspielkurs besucht hat. Sie ist eine begnadete Tänzerin und liebt ihre Weiblichkeit wie die Unmittelbarkeit des Augenblicks beim Spielen.

„Mit ihr kam die Sonne, mit ihr kam der Regen“

„Das Theater war ihr Leben, hier hat sie alles ausgedrückt, was in ihr war. Mit ihr kam die Sonne, mit ihr kam der Regen“, sagt Theaterleiter Necati Sahin, der fast 20 Jahre mit Canatalays zusammen war. „Figen hat nicht nur fast alle Hauptrollen gespielt, sie war auch Buchhalterin, Kostüm- und Maskenbildnerin, Köchin, Kellnerin und die Seele des Theaters.“

Figen Canatalay kommt mit 18 aus Ankara nach Deutschland. Ihre Eltern arbeiten als Beamte für die türkische Botschaft in Bonn. Als Mutter und Vater nach drei Jahren in die Türkei zurückkehren, bleibt die Tochter in Köln, um an der Fachhochschule Architektur zu studieren. In einem Tanzensemble eines türkischen Lehrervereins lernt sie Necati Sahin kennen. Er ist die Liebe ihres Lebens.

Abbruch des Studiums fürs Theater

1985 gründen sie das Arkadas-Theater, eines der ersten Migrantenensembles in Deutschland, das überregional bekannt wird. Für die Bühne bricht die junge Frau ihr Studium ab.

Wenn Canatalay auf der Bühne über Kopftücher spricht, kommt es vor, dass pikierte Gläubige den Raum verlassen. In Leipzig grölen Rechtsextreme rassistische Parolen. Meistens gibt es stehende Ovationen. „Einige unserer Programme waren politisch und provokant. Heute gäbe es da riesige Shitstorms im Internet“, sagt Theater-Gründer Sahin.

Vorbild für viele Frauen

Als das Arkadas-Theater 2012 wegen abgelehnter Fördermittel schließen muss, droht die Frau, die „gelebt hat wie ein Vulkan“ (O-Ton Sahin), zu erlöschen. Die Beziehung zu Sahin war einige Jahre zuvor zerbrochen, mit dem Theater verschwindet ihre zweite große Sinninstanz. Ihre Lebensleistung scheint zu zerstäuben. „Das Ende des Theaters war ein Bruch, den sie nur schwer verkraftet hat“, sagt Sati Arslan, die lange mit Canatalay im Putzfrauen-Kabarett spielte. „Figen war ein mutiges Vorbild für viele Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, auf der Bühne kannte sie keine Zweifel. Mit ihrer Beziehung und ihrem Theater ist ihr Halt weggebrochen.“

Enttäuschte Erwartungen der türkischen Community

Figen Canatalay muss sich arbeitslos melden, als Kellnerin und Verkäuferin in einem Modegeschäft jobben – auch, weil ihre Bewerbungen für Theater und Fernsehen entweder ins Nichts laufen oder nur zu sporadischen Engagements für Rollen der klischeehaften Ausländerin führen. „In Figens Leben spiegelt sich die Einwanderungsgeschichte der türkischen Community mit all ihren Hoffnungen und zum Teil enttäuschten Erwartungen“, sagt Ali Kemal Gün, ein langjähriger Freund.

In ihrer Wohnung lebte das Theater weiter

Die Originalplakate von Arkadas-Stücken hängen weiter in ihrem Wohnzimmer. Im Kleiderschrank lagern die selbstgenähten Kostüme. Überall prangen Fotos von Aufführungen an den Wänden. In Ordnern bewahrt Canatalay Kritiken, Fotos, Interviews und Drehbücher auf. Auch ein Akkordeon, das ihr eine Theatergruppe aus Aserbaidschan geschenkt hat, schmückt das Wohnzimmer.

Arbeit in Flüchtlingsunterkunft trotz Diabetes

Im Frühsommer 2020 teilt ihr das Jobcenter eine Arbeit als Flüchtlingshelferin zu. Figen Canatalay macht das gern. Sie weiß, wie schwer es ist, in Deutschland Fuß zu fassen. Als Ein-Euro-Jobberin begleitet sie Geflüchtete aus der Sammelunterkunft in der Herkulesstraße zu Ärzten und Ämtern, hilft Anträge auszufüllen, kocht in der Gemeinschaftsküche, berät vor allem Frauen. „Sie hat immer wieder gesagt, dass sie wegen des Infektionsrisikos Angst habe, dort zu arbeiten“, sagt Ali Kemal Gün, der nicht versteht, warum sie überhaupt dort eingesetzt wurde. „Sie hatte Diabetes und zählte zur Risikogruppe – das muss das Jobcenter gewusst haben.“

Husten und Schnupfen kurz nach dem Geburtstag

Am 19. Januar 2021 ist Canatalays 61. Geburtstag. „Da hat sie uns angerufen und gesagt, sie wolle für uns Tiramisu und gefüllte Weinblätter machen, ihre Lieblingsspeisen, die sie auch immer für die Theatercrew gemacht hat“, erinnert sich Gün. Als der Freund wenige Tage später zu ihr fährt, um das Essen abzuholen, hat Canataly Husten und Schnupfen. Gün rät ihr, sich testen zu lassen. Als es ihr zwei Tage später schlechter geht, will er einen Krankenwagen rufen, doch sie lehnt ab.

Am 26. Januar schreibt sie eine Whatsapp-Nachricht: Sie sei positiv, südafrikanische Variante, und fühle sich schwach. Wenn sie wieder gesund sei, werde sie nicht mehr in der Herkulesstraße arbeiten. Inzwischen weiß sie, dass es in der Unterkunft einen schweren Ausbruch des Coronavirus' gegeben hat.

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Als die Freunde in den nächsten Tagen nichts von ihr hören und Anrufe unbeantwortet bleiben, benachrichtigt Gün einen Freund von ihr, der in der Nähe wohnt. Canatalay macht nicht auf, doch der Nachbar hört ihre Stimme, die klagend klingt. Gün, der sich bis heute fragt, ob das Gesundheitsamt nicht versucht habe, die Freundin zu kontaktieren, ruft einen Rettungswagen. Am 1. Februar kommt sie ins Krankenhaus, wird an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und ins künstliche Koma versetzt.

Figen Canatalay stirbt am 13. Februar auf der Covid-Intensivstation der Kölner Uniklinik. Sechs Tage nach ihrem Tod erhält die Verstorbene einen an sie gerichteten Brief des Jobcenters, in dem es heißt, dass sie, Figen Canatalay, bedauerlicherweise gestorben und daher nicht mehr berechtigt sei, Leistungen zu beziehen. Sie könne jedoch Widerspruch einlegen. „Zur Trauer über ihren Tod kommt die Wut darüber, dass sie in der Unterkunft arbeiten musste - und wie unwürdig und dumm die Bürokratie noch nach ihrem Tod mit ihr umgeht“, sagt Ali Kemal Gün.

Große Trauerfeier geplant

Der Nachlass der großen Kölner Schauspielerin Figen Canatalay wird im Migrationsmuseum Domid aufbewahrt. Ihre Freundinnen und Freunde vom Theater werden sie mit einer großen Feier würdigen, sobald das Virus, das sie getötet hat, es zulässt.

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