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Vom Rad geschleudert und überrolltKölnerin überlebte nur knapp einen schweren Unfall

Lesezeit 5 Minuten
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Bettina Olling in ihrer Küche

Nippes – Der Blautraum. Sie liegt auf einer Pritsche in einem fensterlosen Raum. Über ihr leuchtet aus einer Leuchtstoffröhre blaues Licht. Drei Pfleger und eine Pflegerin betreten den Raum. Mit ernsten Gesichtern ziehen sie eine riesige Spritze auf. Sie weiß, dass es sich um eine Todesspritze handelt. „Das lasse ich mir nicht bieten!“, schreit die Frau. Sie spürt, dass sie weder aufstehen und weglaufen noch sprechen kann. Doch innerlich schreit sie weiter, noch lauter und immer wieder: „Das lasse ich mir nicht bieten!“

Nahtoderfahrung mit 40 Jahren in Köln

Bettina Olling hat dem Tod ins Gesicht gebrüllt. Heute weiß sie, dass es sich bei dem Traum, den die Farbe Blau überstrahlte, um eine Nahtoderfahrung handelte. „Merkwürdig“, sagt die Mittvierzigerin, „dabei sind diese Worte eigentlich gar nicht meine Sprache.“ Sie passen gar nicht zu ihrem  sanften Naturell. 

Die Kraft ist allerdings spürbar, mit der sich die Träumende auflehnte gegen das Sterben, damals am 7. Oktober 2015. Vorher hatte sie mit dem Rad eine Fahrbahn der Inneren Kanalstraße überquert, dann zeigte die Ampel rot und die Grundschullehrerin wartete auf der Verkehrsinsel. Ihrem Freund, der noch schnell die Straße überquerte, zeigte sie noch mit einem Schulterzucken: „Ich Angsthase mal wieder…“

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Wohnwagen-Anhänger traf die Wartende

In diesem Moment löste sich ein Wohnanhänger von einem Auto, schleuderte die Wartende von ihrem Fahrrad auf die Fahrbahn, wo sie überfahren wurde und „zertrümmert auf dem Asphalt“ lag. So beschreibt Olling es selbst. Unter dem Titel „Welt – Irgendwo anders“ hat sie ihre Geschichte nun in einem Buch niedergeschrieben. Es erzählt mehr vom Glück als vom Unglück. „Glücklicherweise war die Uniklinik ja direkt in der Nähe“, sagt Olling.

Ein Team von 23 Mitarbeitern der Intensivmedizin war mit ihrem Fall befasst: „Gefäße zur Leber beschädigt, Erguss am Lungenflügel links, Halsschlagader an beiden Seiten gerissen, aufgrund dessen ein lokaler Hirninfarkt, beide Becken gebrochen, Trümmerbruch links, Verletzung der Beckenarterien rechts und links“, so lautete die Diagnose – ein Polytrauma, drei Großbaustellen, von denen jede einzelne lebensbedrohlich war. 

Überlebenschance lag bei fünf Prozent

Überlebenschance: fünf Prozent. Olling träumte den Blautraum immer wieder. Als sie nach zwei Wochen Koma erwachte, befand sie sich auf einem anderen Planeten. „Planet Bett“ so heißt der Titel des zweiten  Kapitels. Ihre Familie war bei ihr und berichtete, dass die Bauch-OP gut verlaufen ist. Später kann Olling rekonstruieren, dass ihr Bauch an diesem Tag geschlossen wurde und bis dahin offen war, geschützt von einer Vakuumdecke. Ihr war kalt.

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Noch halb sediert vermutete sie ihren Aufenthaltsort in einer Schneelandschaft in den französischen Alpen. Sie konnte nicht sprechen. Grund waren der Luftröhrenschnitt und das Beatmungsgerät. Aus ihren Beckenknochen ragten lange Metallstäbe. Auf ihrem eigenen Planeten reimte sie sich ihre Wirklichkeit selbst zusammen. „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie sie die Metallstäbe an meinem Bauch festgeklebt haben“, so Olling. Ihr Unterbewusstsein tat ihr den Gefallen und verdrängte, dass die Stäbe in ihrem Becken steckten.

CT-gesteuerte Lungen-Drainage

Humor schimmert an vielen Stellen des Buches hervor, wenn sie etwa schildert, wie sie das erste Mal eine Reise in ein fremdes Universum antreten musste, eine Irrfahrt durch das Klinikgebäude, voller noch viel zu lauter Geräusche, Flure, Aufzüge, anderer Bettplaneten. Sie hatte Fieber und Erstickungsangst, als sie eine CT-gesteuerte Lungen-Drainage über sich ergehen lassen musste. „Groundcontrol to Major Tom“ heißt dieses Kapitel ihrer Genesungsgeschichte nach einem Song ihres Lieblingssängers David Bowie. Ein Bild von ihm hängt schutzengelgleich in Ollings Küche. Ihre Schwester, die nach ihrem Unfall die Geschehnisse in einem Tagebuch dokumentierte, erzählte ihr, dass sie im Krankenzimmer ihre Lieblingsmusik auflegte und die Schwerverletzte sich zu Bowiesongs erstmals bewegte, mit dem Kopf wippte.

Tagebucheinträge der Schwester 

Die Tagebucheinträge ergänzen im Buch Ollings eigene Erinnerungen. Kursiv sind Träume wiedergeben, wie auch der Friedhofstraum: „Ich trage eine schwarze Arbeiterhose, einen schwarzen Kapuzenpulli und eine schwarze Baseballcap“, schildert die Autorin, „Ich komme vom Friedhof, ich sehe meine Hände, die feucht und schwarz sind, von der Erde. Ich gehe in eine Kirche, wo die Hochzeit meiner Schwester stattfindet. Ich renne nach vorne.

Die Gäste stoßen einen Schreckensruf aus. Ich versuche immer wieder, einen Blick auf das Brautpaar zu werfen, aber es gelingt mir nicht.“ Heute weiß sie, dass sie im Traum bei ihrer eigenen Beerdigung war. Die Trauergäste waren entsetzt, die Tote dort zu sehen. So wechselt das Buch zwischen den surrealen Traumerlebnissen, der eingefärbten Wirklichkeit auf dem Planeten Bett und den tatsächlichen Ereignissen aus der Sicht ihrer Schwester.

Das Wunder namens Heilung

Es ist auch die Geschichte eines Wunders namens Heilung. Das erste eigene Atmen, das erste Sprechen, das erste Hinsetzen, das erste Stehen, schließlich sogar die ersten Schritte, obwohl es zunächst nicht klar war, ob Olling jemals wieder laufen können würde. Die passende Haltung zum eigenen Schicksal finden.

Leidensgenossinnen in der Reha

In der Reha traf sie Leidensgenossinnen, eine junge Frau, die bei einem Fahrradunfall von einem LKW überrollt wurde, ein schweres Hirntrauma erlitt und auf einem Auge erblindete. Olling erzählt vom gemeinsamen Lachen darüber, dass die Halbblinde die Gehbehinderte bei einem Ausflug auffing. Sie erzählt von der 25-Jährigen, die bei einem Autounfall ihren Arm verlor und beim Haarewaschen über die neue Einschränkung schimpfte. Sie tröstete sie damals damit, dass sie zwar noch beide Arme haben, aber damit nichts machen könne. Eine ordentliche Portion Galgenhumor half den Frauen, die immer noch befreundet sind.

Ein Jahr, nachdem Bettina Olling, mit dem Fahrrad „kurz zum Baumarkt“ fuhr, war sie schließlich wieder zuhause. Narben sind geblieben, ein gelähmter Fuß, auf den sie aber immerhin auftreten kann, und eine neue Perspektive auf das Leben: „Es ist nicht selbstverständlich“, sagt die Genesene. „Ich möchte es genießen.“

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