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Nobelpreisträger aus NRW„Wahrscheinlich dumm, aber ich würde es gerne probieren“

Lesezeit 12 Minuten
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Prof. Benjamin List, Direktor am Max-Planck-Institut in Mülheim an der Ruhr, wurde im Dezember 2021 der Chemie-Nobelpreis verliehen.

  • Benjamin List, Honorarprofessor an der Universität Köln, hat den Chemie-Nobelpreis gewonnen.
  • Sein verrücktester Wunsch: CO2 zu C und O2 zu zerlegen und damit das Klima zu retten.
  • Das Genie liegt wohl in den Genen. Auch seine Tante Christiane Nüßlein-Volhard bekam 1995 den Nobelpreis.
  • Beim Tsunami in Thailand 2004 verlor er fast seine Familie und sein Leben. Im Interview sagt er, wieso dieser Tag trotzdem eine gute Erfahrung für ihn war.

Mülheim an der Ruhr – Von Benjamin Lists Büro aus im neunten Stock des Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung kann man normalerweise den Blick über die Stadt schweifen lassen, an diesem Donnerstagnachmittag bleibt sie im Nebel verborgen. Hinter seinem Schreibtisch reihen sich Urkunden, an einem Stein lehnt eine Postkarte. Sie ist von Roald Hoffmann, „einer absoluten Legende in der Chemie“. Diese Legende hat List zum Chemie-Nobelpreis gratuliert. „Seine Karte habe ich mir hier vorne auf die Fensterbank gestellt, weil ich so stolz darauf war“, sagt List.

Herr Professor List, Sie sind der zweite Nobelpreisträger Ihrer Familie. Ihre Tante Christiane Nüßlein-Volhard gewann ihn bereits 1995. Sie durften sie damals zur Preisverleihung nach Schweden begleiten. Wegen der Pandemie haben Sie am 10. Dezember Ihren Nobelpreis in Berlin bekommen. War Ihre Tante ebenfalls eingeladen?

Klar. Ich habe meine ganze Familie nach Berlin eingeladen, nach der Preisverleihung sind wir in eine Bar gegangen. Da habe ich eine kleine Spaßesansprache gehalten, dass meine Tante nicht traurig sein soll, dass ich sie nun vom Thron stoße und sie nicht mehr das einzige Genie der Familie sei. Im Ernst: sie war total glücklich.

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Eine Nobelpreisträgerin als Tante – das macht einem als Forscher schon ein wenig Druck, oder?

Es ist zweischneidig. Ich habe schon eine nie ausgesprochene Erwartungshaltung von meiner Mutter und meiner Tante gespürt. Auf der anderen Seite spornte es mich aber an zu sehen, dass jemand aus unserem Genpool so erfolgreich sein kann. Selbstvertrauen ist gar nicht schlecht.

Das naturwissenschaftliche Interesse wurde Ihnen also quasi mit in die Wiege gelegt. Wann fingen Sie aber an, sich für Moleküle zu interessieren?

Das ging mit elf Jahren los. Vielleicht hatte ich eine Fernsehsendung gesehen? Vielleicht hat mir irgendjemand etwas Spannendes erzählt? Ich weiß es nicht mehr. Aber mit elf Jahren dachte ich, Chemiker verstehen die Welt. Komplett. Alles besteht ja aus Molekülen und Atomen.

Glauben Sie immer noch, Chemiker verstehen die Welt?

Nein, überhaupt nicht! Weder die Physik noch die Chemie hat Antworten auf die ultimativen Fragen des Lebens. Wo kommen wir her? Was ist Zeit? Warum gibt es Leben, warum gibt es Bewusstsein? Fragen, die die Naturwissenschaft nicht beantworten kann. Aber als ich das verstanden habe, war es schon zu spät. Da habe ich schon gemerkt: Man kann auch so tolle Sachen herstellen wie Schwarzpulver.

Womit Sie ja tatsächlich im Keller eines Freundes experimentiert haben.

Es ist zum Glück alles gut gegangen: Ich schaffte es nicht, irgendetwas Explosives herzustellen.

Auch wenn die Chemie Ihnen die Fragen des Lebens nicht beantworten konnte: Bei welchen großen Problemen unserer Zeit bietet die Chemie eine Lösung?

Zur Person

Benjamin List (53) wurde in Frankfurt geboren und studierte in Berlin Chemie. Nach seinem Studium promovierte er in Frankfurt. Seit 2004 lehrt List als Honorarprofessor an der Universität Köln, 2005 wurde er Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr. List gilt als einer der Begründer der asymmetrischen Organokatalyse. 

Ich glaube, dass die Katalyse, beziehungsweise die Chemie, die wichtigste Technologie unserer Zeit ist. Ein Drittel des Weltbruttosozialprodukts wird mithilfe von Katalyse erwirtschaftet – das ist schon krass. Sie ist auch eine kulturelle Errungenschaft, vielleicht die wichtigste der Menschheit. Ich weiß, das sind starke Worte – Sie können mich gerne korrigieren, wenn Sie anderer Meinung sind.

Ich diskutiere jetzt nicht mit einem Nobelpreisträger über die Bedeutung von Chemie.

(lacht) Sehr gute Idee. Was ich damit meinte: Wir haben heute große Herausforderungen, die vermutlich nur durch Katalysatoren und Chemie lösbar sein werden. Angesichts des Klimawandels wäre es eine tolle Herausforderung für mich, aus CO2 etwas Gutes zu machen: Können wir das CO2 aus der Luft holen und mithilfe von Katalysatoren in Sauerstoff und Kohlenstoff spalten?

Halten Sie das für möglich?

Ich weiß es nicht, wahrscheinlich nicht. Aber ganz ehrlich: So ähnlich habe ich mich auch bei meinem Experiment 1999 gefühlt. Wahrscheinlich ist es eine dumme Idee, aber ich würde es so gerne ausprobieren. Stellen Sie sich das vor! Den Sauerstoff könnten wir zurück in die Atmosphäre geben, aus der Kohle können wir alles Mögliche machen: Parfüms, Medikamente, Benzin sogar. CO2 zu C und O2 – diese Reaktion gibt es noch nicht, die hat noch niemand gefunden. Wenn es sie aber gibt, dann ist sie bahnbrechend.

Wo wir gerade bei bahnbrechend sind: Worum geht es in Ihrer Forschung, für die Sie und David MacMillan einen Nobelpreis gewonnen haben?

Die große Entdeckung war bei uns: Es gibt eine neue Art von Katalysatoren. Chemiker dachten eigentlich, es gäbe nur zwei allgemein anwendbare Katalysatoren: Enzyme, wie wir sie in unserem Körper haben, und metallhaltige Verbindungen, wie sie zum Beispiel in einem Autoabgaskatalysator vorkommen. Wir haben uns gefragt, ob auch kleine organische Moleküle mit katalytischen Eigenschaften rational entwickelt werden können. Also habe ich 1999 ein Experiment mit der Aminosäure Prolin als Katalysator gemacht. Das funktionierte.

Der Nobelpreis wird ja verliehen für Entdeckungen, die das Leben der Menschen verbessern. Inwiefern ist das bei Ihrer Forschung, der Organkatalyse, der Fall?

Am Anfang war diese neue Art von Katalysatoren nur eine Kuriosität. Aber in den vergangenen 20 Jahren zeigte sich: Das ist ein allgemeines neues Feld, eine neue Katalysemethode. In Holland nutzt eine Firma unsere Reaktion, um ein Medikament gegen HIV herzustellen. In den 80er und 90er Jahren war HIV noch die schlimmste virale Erkrankung der Welt, die Menschen starben in Millionen daran. Heute wird HIV mit drei bis vier Medikamenten lebenslang behandelt, die Patienten sterben an Altersschwäche. Eines der vier Medikamente wird mit dem Verfahren hergestellt, das wir entdeckt haben, mit Prolin als Katalysator. Die Organkatalyse wird immer häufiger eingesetzt, einerseits bei der Herstellung von Medikamenten, aber auch bei Parfüms.

Sie arbeiten derzeit an einer Kooperation mit Biontech. Das Unternehmen ist ein Feindbild für radikale Querdenker geworden, das Symbol für eine geldgierige Pharmaindustrie. Macht es Ihnen Sorgen, dass manche Menschen heute wissenschaftliche Erkenntnisse direkt leugnen? So wie einige Querdenker Corona für eine Verschwörungserzählung halten.

Es macht mir schon Sorgen. Doch das betrifft eine kleine Minderheit – zumindest hoffe ich das. Als Forscher finde ich es toll mitzubekommen, wie Wissenschaftler solche fantastischen Impfstoffe entwickeln und Menschenleben retten. Ich sehe aber auch die Impfangst bei manchen Menschen. Für mich steckt dahinter so eine generelle Chemiephobie: Die Aversion dagegen, etwas Künstliches in den Körper gespritzt zu bekommen. Ganz ehrlich: Ich kann sie ein bisschen verstehen. Die Frage ist, wie man damit umgeht: Überwinde ich diese Angst, indem ich mich bilde und lerne: Bei der Impfung passiert mir höchstwahrscheinlich nichts, im Gegenteil, sie rettet mir das Leben? Manche Menschen übersetzen diese Ängste stattdessen in Verschwörungstheorien. Natürlich bin ich als Wissenschaftler auf der Seite der Vernunft. Aber ich will auch nicht mit dem Finger auf andere zeigen und finde die hysterische Debatte in den Sozialen Medien schade. Wir haben hier am Institut eine Aktion für Erstimpflinge gemacht, bei der ich Schirmherr war. Knapp hundert Mülheimer Bürger haben wir überzeugen können, sich impfen zu lassen. Mit einigen von ihnen habe ich vorher argumentiert.

Der Höhepunkt Ihres wissenschaftlichen Lebens dürfte der Tag sein, an dem Ihnen der Nobelpreis zugesprochen wurde. Das war im Oktober 2021. Was geht einem durch den Kopf, wenn der Anrufer sagt: Sie haben den diesjährigen Chemie-Nobelpreis gewonnen?

Es war total skurril, ich hatte das Gefühl, es gibt keine Schwerkraft und keine Zeit. Meine Frau saß währenddessen in dem Café, in dem wir frühstücken wollten. Ich wollte ihr signalisieren, dass dies „der“ Anruf aus Schweden ist, doch sie hat mich nicht gehört. Also habe ich es pantomimisch dargestellt.

Wie haben Sie das gemacht?

Ich habe so getan, als würde ich in Ohnmacht fallen.

Hatten Sie wirklich keine Ahnung, dass der Nobelpreis in diesem Jahr an Sie gehen könnte?

Ich wusste, dass ich einer der Kandidaten auf einen Nobelpreis bin. Aber dass es so früh in meinem Leben passieren würde, damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Kein Mensch weiß ja, ob er nominiert ist, das ist strikt geheim. Deshalb habe ich mir mit meiner Frau am Abend zuvor ein Konzert in Amsterdam angehört, „Malers Fünfte“. Hätte ich das gewusst, wäre ich in Mülheim geblieben.

Den Nobelpreis haben Sie gemeinsam mit David MacMillan bekommen. Wie gut verstehen Sie sich? Sie beide forschen schließlich auf einem sehr ähnlichen Gebiet.

Es gab schon eine Konkurrenz zwischen uns und wir haben uns ab und zu mal gestritten, aber es war immer getragen von Respekt. Schließlich haben wir zusammen ein neues Feld der Chemie aufgezogen. An dem besagten Tag konnten die Leute vom Nobelkomitee ihn nicht erreichen und fragten mich nach seiner Nummer. Ich gab sie ihnen und schrieb ihm gleichzeitig eine SMS: Dave, wake up! An der Ostküste war es noch Nacht. 30 Sekunden später rief er mich zurück und sagte: „Ben, sorry, aber das ist ein Prank.“ Er hat es echt nicht geglaubt. Der hat wohl etwas fiese Doktoranden, die Scherze mit ihm machen.

Haben Sie an einen Streich geglaubt?

Ich sagte: Ehrlich Dave, wenn das ein Prank ist, dann ein ziemlich guter. Ich hatte mit mehreren Leuten des Nobelkomitees gesprochen, einen kannte ich sogar persönlich. David hat dann mit mir gewettet: 1000 Dollar, dass das ein Prank ist. Das Geld habe ich noch nicht bekommen, aber darauf bestehe ich.

An dem Tag des Anrufes fuhren Sie von Amsterdam zurück nach Mülheim. Wie wurden Sie hier empfangen?

Legendär. Alle Mitarbeiter aus allen Arbeitsgruppen standen in ihren Laborkitteln auf den Balkonen und haben geklatscht. Fünf Minuten, einfach nur geklatscht. Nicht nur die Leute aus meiner Abteilung, sondern alle Mitarbeiter, selbst die Schlosser und Verwalter. Das ganze Institut hat vibriert. Es war unvergesslich, wunderschön.

Auf einem Bild vom Empfang setzen Sie schon die erste Flasche Champagner an.

(lacht) Ich hatte kein Glas.

Es soll in diesem Gespräch nicht nur um den Nobelpreis gehen, sondern auch um Sie und Ihr Leben. Dazu gehört auch der Tsunami 2004, in den Sie mit Ihrer Familie gerieten. Was geschah damals?

Wir waren in Urlaub, meine Frau, unsere beiden drei und fünf Jahre alten Jungs, zwei Freunde und ich. Ausgerechnet in Khao Lak, der Stelle, die in Thailand am schrecklichsten getroffen wurde. Als die große Welle kam, lagen wir gerade am Pool. Meine Frau und ich schnappten uns je ein Kind, rannten hinter das Poolhaus, dann kam das Wasser und wir waren drin im schwarzen Ozean. Man kann das kaum beschreiben. Wir wurden durch die Gegend geschleudert, verloren die Kinder aus den Händen, wurden gequetscht von Häusern und Autos. Ich war sehr lange unter Wasser und wäre fast ertrunken, meine Frau auch. Im Laufe des Tages fanden wir uns wieder. Als letztes fanden wir unseren jüngeren Sohn Theo, zehn Stunden nach dem Tsunami, in einem Krankenhaus 150 Kilometer von Khao Lak entfernt. Wir hatten alle Verletzungen, aber eher nicht lebensbedrohlich. Als mir klar wurde: Wir sind alle gesund, wir kommen alle zurück nach Deutschland, da hatte ich eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens. Es waren Wochen und Monate, in denen ich einfach dankbar war. Meinen Ehrgeiz, mein Bedürfnis nach Anerkennung hatte ich komplett verloren. Vorher habe ich mich immer geärgert, wenn mich meine Kollegen nicht zitiert haben. Aber damals habe ich gemerkt, dass Objekte und berufliche Erfolge einen nicht nachhaltig glücklich machen. Insofern war es eine gute Erfahrung – das ist hart zu sagen, weil so viele Menschen bei dem Tsunami Angehörige verloren haben.

Wie wichtig sind Ihnen berufliche Erfolge heute? So ein Nobelpreis bedeutet Ihnen ja sicherlich trotzdem viel.

Klar. Das möchte ich gar nicht kleinreden. Nach eineinhalb Jahren oder so war das Trauma weg, da wurde ich auch ehrgeiziger. Ich habe wieder angefangen, mich zu ärgern, wenn mich jemand nicht zitierte. Im Hinterkopf blieb die Erfahrung aus Thailand aber tief drin.

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Sie stehen auf der Liste der Bundesversammlung, die den nächsten Bundespräsidenten wählt. Die CDU hat sie nominiert. Wieso glauben Sie, hat gerade die Union Sie auf die Liste gesetzt?

Das war der einzige Punkt, der mich zögerlich gemacht hat: Werde ich jetzt in eine Richtung gepresst? Aber mir wurde direkt gesagt: Sie sind komplett unabhängig bei der Wahl. In meiner Vergangenheit war ich oft Wechselwähler. Mich stört die Kurzfristigkeit in der Politik, die fehlenden langfristigen Perspektiven. Deshalb hat man den Klimawandel auch lange vernachlässigt. Vor der Bundesversammlung gucke ich mir genau an, wofür die Kandidaten stehen und entscheide mich kurz vor der Wahl. Gerade beim Präsidenten würde ich niemals parteipolitisch entscheiden. Ich wünsche mir einen klugen Menschen, der auch mal etwas Neues sagt.

Trifft das auf Frank-Walter Steinmeier zu?

Ich finde schon, dass er gute Sachen sagt. Auch, dass er eine Niere für seine Frau gespendet hat, macht ihn sehr sympathisch. Ich fand aber auch Roman Herzog von der CDU gut. Der trat nach seiner Wahl vor den Bundestag und sagte: Ich wünsche mir ein Deutschland, das unverkrampft ist. Er meinte damit, dass Menschen unterschiedlicher politischer Richtungen miteinander sprechen müssen. Es gibt diese extremen Pole, da geht die Stimme der Vernunft manchmal unter – zumindest, wenn man Twitter glaubt. Eine schwarz-grüne Regierung würde ich als unverkrampft bezeichnen, auch eine Ampel halte ich für eine gute Konstellation. Wieso mal nicht?

Herr List, Sie haben dieses Jahr den Chemienobelpreis gewonnen. Mehr geht ja eigentlich nicht. Was ist das nächste Projekt, das Sie 2022 angehen werden?

Ganz ehrlich: Ich hatte gerade die beste Zeit in meinem Forscherleben. Ich habe das beste Labor, das ich je geleitet habe, die klügsten und enthusiastischsten Studenten, wir haben super Projekte und tolle Kooperationen. Da werde ich gerade herausgerissen. Im Moment hoffe ich, dass ich in dieses alte Leben zurückfinde. Das habe ich nämlich geliebt.

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