NRW-Schulen im NotstandDer Digitalpakt ist ein Monster der Bürokratie

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E learning dpa

Vor dem Rechner statt vor den Büchern sitzen – das ist an NRW-Schulen noch die ganz große Ausnahme.

  • Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland im Digitalbereich noch viel aufzuholen hat.
  • Eine Milliarde Euro bewilligte der Bund nun allein für NRW, um „Lernen in der digitalen Welt“ zu ermöglichen.
  • Die Kritik an der Verteilung hält sich hartnäckig.

Köln – Die schöne neue Welt des E-Learnings ist in Köln-Widdersdorf zu finden. Die Schüler des Gymnasiums Neue Sandkaul haben auch in der Corona-Krise einen geregelten Tagesablauf. Jeden Morgen von 9 bis 12 Uhr verfolgen sie den Online-Unterricht der Lehrer auf ihren eigenen Schul-Tablets.

Für den Nachmittag gibt es Hausaufgaben. Die Schüler sind die digitale Lehre gewohnt. Tafeln und Kreise gab es in ihrer Schule noch nie, nur Smartboards und Rechner. „Uns ist völlig bewusst, dass wir uns in einer komfortablen Lage befinden“, sagt Schulleiterin Kristina Kop-Weiershausen. Die Bedingungen in Widdersdorf sind außergewöhnlich. Die Schule ist nagelneu, erst vor zwei Jahren wurde sie eröffnet. Von der Stadt von Beginn an als digitaler Leuchtturm angelegt.

Breitbandinternet, WLan, Tablets, Laptops und Whiteboards für alle

Wie in Widdersdorf soll es möglichst bald überall in NRW aussehen: Breitbandinternet, WLan, Tablets, Laptops, Whiteboards und Lehrer, die das Internet nicht als Paralleluniversum begreifen. Möglich machen soll das der Digitalpakt, der im Mai 2019 in Kraft getreten ist. Fünf Milliarden Euro hat der Bund locker gemacht, um den Schulen den Weg ins digitale Zeitalter zu ebnen. Als bevölkerungsreichstes Bundesland hat NRW hat eine Milliarde aus dem Topf bekommen. Doch die Kritik an der Verteilung hält sich hartnäckig: Mangelnde Standards, bürokratische Hürden, zähe Umsetzung. Doch nun zeigt die Krise, wie dringend Handlungsbedarf besteht. „Vielleicht fehlte bislang der Anlass, den Pakt mit der letzten Konsequenz umzusetzen“, sagt Christina Anger, Bildungsexpertin beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

Schulministerium tritt auf die Bremse

Die Landesregierung betont, die Umsetzung des Pakts sorgfältig vorbereit zu haben. Allerdings räumt das Schulministerium ein, dass die Antragstellung „eine gute Zusammenarbeit zwischen den Schulträgern und ihren Schulen, vor allem bei der Erhebung des jeweiligen Status-Quo“ erfodere.

In der Realität ist der Digitalpakt ein Bürokratiemonster. Wer das Geld etwa für die Anschaffung von Laptops oder Tablets abrufen will, muss einen Wust an Formalitäten erledigen und Auflagen erfüllen. Zunächst muss die Schule ein Technisch-pädagogisches Einsatzkonzept (TPEK) erarbeiten. In dem Formular wird auch die Breitbandleistung der Schule abgefragt. Schon hier dürften die ersten Schulleiter verzweifeln. Denn wer kein Breitband hat, kann auch keine digitalen Endgeräte beantragen. Schnelles Internet wiederum ist laut Digitalpakt nicht förderfähig. Für diesen Zweck stünden andere Töpfe bereit, erklärt das Schulministerium. Nach dem TPEK geht der Papierkrieg erst richtig los: Antragstellung, Bewilligung, Ausschreibung, Beauftragung und Lieferung der Gerätschaften. Das Geld gibt es aber erst, wenn es schon ausgegeben wurde. Für die Finanzierung muss der Schulträger in Vorleistung gehen.

Langer Streit zwischen Bund und Ländern

Dem Zustandekommen des Digitalpakts ging ein langer Streit zwischen Bund und Ländern voraus. Der Bund wollte zwar das Geld geben, dafür aber auch eine Änderung im Grundgesetz vornehmen. Das wiederum wollten die Länder nicht, da sie einen Eingriff in ihre Bildungshoheit befürchteten. Schließlich verständigte man sich doch auf eine Gesetzesänderung. Bis 2024 stellt der Bund nun fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung von Deutschlands Schulen bereit. Hinzu kommt ein Eigenanteil der Bundesländer von 555 Millionen Euro.

Eine Abfrage bei den Kommunen im Verbreitungsgebiet dieser Zeitung zeigt, dass bislang nur wenige Schulen Anträge gestellt haben. Andere befinden sich noch in der Frühphase einer Bearbeitung. In Siegburg etwa seien „alle weiterführenden Schulen und auch die Grundschulen dabei, die erforderlichen Vorarbeiten für die Beantragung der Fördermittel durchzuführen“, schreibt die Verwaltung. In Gummersbach rechnet man im Frühjahr 2021 mit den ersten Rechnern und Tablets – sofern die Anträge bewilligt werden. Die Stadt Leverkusen deutet an, wo die Schwierigkeiten liegen: „Die Beantragung der Mittel ist mit einen hohen Verwaltungsaufwand verbunden. Aktuell werden hierzu alle notwendigen Unterlagen zusammengestellt.“ Von den 41 städtischen Schulen hätten bislang 14 konkrete Planungen vorgelegt, die allerdings noch überarbeitet werden müssten. Aus Köln ist bislang ein einziger Antrag eingegangen – von einem Fachseminar für Altenpflege.

Programm „Gute Schule 2020“ vom Land NRW

Schon vor dem Digitalpakt hatte das Land das Programm „Gute Schule 2020“ aufgelegt. Auch davon sollten die Schulen neue Geräte beschaffen oder in ein schnelles Netz investieren können. Doch das Geld sei stattdessen schwerpunktmäßig in die Sanierung oder den Neubau von Schulen gesteckt und nur zu kleinen Anteilen in die digitale Infrastruktur geflossen, kritisiert Sigrid Beer, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im NRW-Landtag Der Grund: Die Schulen hätten sich auf den Digitalpakt verlassen und erstmal abgewartet.

Und es gibt noch mehr Probleme, für die es noch keine Lösungen zu geben scheint: Wer liefert den technischen Support, wer wartet das Netzwerk, wer spielt neue Software auf die Rechner und welche Programme dürfen vor dem Hintergrund rigider Datenschutzrichtlinien überhaupt genutzt werden? In vielen Schulen haben das computeraffine Lehrer selbst übernommen. „Dass Lehrer nach Feierabend auch noch Computer einrichten, darf nicht sein“, sagt Ute Lorenz von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW.

Deutschland hat noch viel aufzuholen

Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland im Digitalbereich noch viel aufzuholen hat. Die im November 2019 veröffentlichten Ergebnisse der neuesten Icils-Studie, einer Art Pisa-Studie für Digitalkompetenzen von Schülern der achten Klassen, liefern einen dramatischen Befund. Teilgenommen haben 14 Länder, NRW wird als einziges Bundesland gesondert aufgeführt. Nur ein geringer Anteil der Schüler verfügt demnach über gute Computerkenntnisse. Jeder zehnte Gymnasiast hat am Ende der achten Jahrgangsstufe nur sehr rudimentäre IT-Kompetenzen, an den nicht-gymnasialen Schulen sogar jeder zweite Schüler. Weit abgeschlagen ist NRW auch bei der Ausstattung der Lehrer mit digitalen Endgeräten. In Dänemark gaben gut 91 Prozent der Schulen an, dass „jede Lehrkraft“ ein solches Gerät besitze. Schlusslicht ist NRW mit 0,9 Prozent, weit hinter Chile, Uruguay und Kasachstan. Überrascht zeigte sich die Studienleitung von der Uni Paderborn darüber, dass die meisten Lehrer Computer an Schulen gar nicht für notwendig halten. Zwei Drittel der Befragten hatten angegeben, dass für sie bisher nicht ersichtlich sei, dass der Einsatz digitaler Medien einen positiven Effekt auf die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler habe.

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Von den Ergebnissen zeigte sich damals auch NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer alarmiert. „Die Studie zeigt deutlich, dass ein großer Handlungsbedarf besteht“, sagte sie bei der Präsentation. „Zeitgemäßer Unterricht kann aber nur funktionieren, wenn auch unsere Schulen zeitgemäß ausgestattet werden."

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