Prozess Kindesmissbrauch90 Minuten Anklage geben Blick in grausame Welt von Jörg L.

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Jörg L. (rechts) neben seinem Verteidiger Udo Klemt.

Jörg L. (rechts) neben seinem Verteidiger Udo Klemt.

  • Am Montag begann in Köln der Prozess gegen Jörg L., der im Komplex des Kindesmissbrauchs in Bergisch Gladbach eine entscheidende Rolle spielt.
  • Jörg L. steht im Zentrum des größten Verfahrens wegen sexueller Gewalt an Kindern in der Geschichte der Bundesrepublik.
  • Wie hat sich der Bergisch Gladbacher zu fast eineinhalb Stunden Anklage-Vortrag verhalten? Der Bericht des Prozessauftakts.

Köln – Mit einer roten Aktenmappe vor dem Kopf, die er in seinen zitternden Händen hält, betritt Jörg L. an diesem Montagmorgen Saal 210 des Kölner Landgerichts. Ein Wachtmeister begleitet den 43-Jährigen zur Anklagebank. Fünf Minuten später, als die Fotografen den Gerichtssaal verlassen haben, lässt Jörg L. die Mappe vor sich auf den Tisch sinken. Er nimmt seinen Mund-Nase-Schutz ab und atmet tief durch. Seinem Anwalt streckt er zur Begrüßung den rechten Ellenbogen entgegen.

Bislang kursierte von Jörg L. nur ein älteres Foto im Internet. Darauf lächelt der kahlköpfige Mann aus Bergisch Gladbach in die Kamera. Es ist ein markantes, ein fröhlich wirkendes Lächeln eines Mannes, dem nun eine Gefängnisstrafe bis zu 15 Jahren und anschließende Sicherungsverwahrung drohen. Freunde und Verwandte haben ihn der Polizei als liebevoll und hilfsbereit beschrieben. Als fürsorglichen Vater. Zurückhaltend und „im positiven Sinne unauffällig“, wie es eine ehemalige Arbeitskollegin im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ ausdrückt.

Missbrauchsprozess: Nicht alle Zuschauer finden einen Platz

An diesem Montagmorgen sind alle Augen auf den gelernten Koch und Hotelfachmann gerichtet. Nicht alle Journalisten haben Platz gefunden im Saal, wegen der Corona-Abstandsregelungen sind darüber hinaus nur 15 weitere Zuschauer zugelassen. Jörg L. steht im Zentrum des größten Verfahrens wegen sexueller Gewalt an Kindern in der Geschichte der Bundesrepublik. Er war der erste, gegen den die Polizei Köln voriges Jahr im Oktober nach einem Hinweis aus einem anderen Verfahren ihre Ermittlungen aufgenommen hat.

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Über Chats mit Gleichgesinnten auf seinem Handy gelangten die Fahnder an weitere Verdächtige und über diese an noch mehr Beschuldigte. Inzwischen ist die Rede von 30.000 Männern aus der ganzen Bundesrepublik und dem benachbarten Ausland, die teils schweren sexuellen Missbrauch an ihren eigenen Kindern begangen haben sollen. Mehr als 50 minderjährige Opfer konnte die Polizei bislang vor weiteren Qualen retten.

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Fast eineinhalb Stunden trägt die Staatsanwältin detailliert vor, was Jörg L. zur Last gelegt wird. 79 Taten umfasst die 114-seitige Anklageschrift. Stoisch, äußerlich ungerührt, nahezu bewegungslos folgt der Angeklagte mit dem akkurat gestutzten Ziegenbärtchen den Ausführungen. Nur hin und wieder lässt er seinen Blick kurz über die Zuschauer schweifen. Nicht ein einziges Mal verzieht er die Mundwinkel.

Staatsanwältin trägt eineinhalb Stunden Lang Anklage vor

Mit fester Stimme hält die Staatsanwältin ihm die Ermittlungsergebnisse vor, eine Tat nach der anderen. Fall 14, Fall 49, Fall 65. Es sind stets dieselben oder ähnliche Formulierungen, die das Leid der heute drei Jahre alten Tochter von Jörg L. beschreiben. Ab ihrem dritten Lebensmonat soll sie vom Vater missbraucht und vergewaltigt worden sein. Von vielen Taten soll er Fotos und Videos angefertigt und sie an seine Chatpartner verschickt haben. Die Einzelheiten sind derart grausam, dass sie hier nicht geschildert werden.

Am 14. Mai 2019 soll Jörg L. das Mädchen nicht nur entkleidet und fotografiert, sondern außerdem einen Zettel neben ihm platziert haben mit der Aufschrift „I’m verified“ (übersetzt: „Ich bin echt“). Das Foto soll er einem bis heute nicht identifizierten Chatteilnehmer geschickt haben. Mit den Bildern, die sie tauschten, hätten sich die Beschuldigten gegenseitig „hochgepuscht“, wird Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer später sagen.

In einem anderen Fall im Juli 2019 soll Jörg L. Gewalt angewendet haben, um seine Tochter unmittelbar nach dem Missbrauch besser filmen zu können. Wie die Staatsanwältin vorträgt, habe die damals Zweijährige dabei laut geweint, „Aua“ und „Nein“ und nach seiner „Mama“ geschrien. Im Zuschauerraum ist ein Aufstöhnen zu hören, eine Frau schlägt die Hände vors Gesicht, andere schütteln erschüttert mit dem Kopf.

Ehefrau will nichts von Taten geahnt haben

L.’s Ehefrau hat den Ermittlungen zufolge nichts von den mutmaßlichen Taten geahnt. Meistens war sie bei der Arbeit, wenn ihr Mann das Kind missbraucht haben soll. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm zudem vor, auch das Kind eines Bekannten mit dessen Einverständnis missbraucht zu haben, in einer Wellness-Landschaft im Ruhrgebiet.

Nach Verlesung der Anklage folgt die Einlassung von Jörg L. Er wolle sich „im Einzelnen“ äußern, kündigt der Richter an, bevor er die Öffentlichkeit auf Antrag der Nebenklägerin für den Rest des Tages ausschließt. Die Schilderungen des Angeklagten beträfen den ganz persönlichen Lebensbereich der Tochter und ihrer Mutter, begründet Anwältin Monika Müller-Laschet ihren Antrag. Dahinter müsse das „nachvollziehbare Interesse“ der Öffentlichkeit zurückstehen. Schon jetzt laste ein hoher Druck auf Mutter und Tochter. Staatsanwaltschaft und Verteidiger widersprechen dem Antrag nicht. Und so bleibt vorerst unklar, was Jörg L. ausgesagt hat.

Am nächsten Verhandlungstag kommenden Mittwoch werden weitere Zeugen gehört, unter anderem Chatpartner des Angeklagten. Dann soll die Öffentlichkeit zugelassen sein.

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