Riskante OP an 101-jähriger KölnerinWarum immer öfter Hochbetagte operiert werden

Lesezeit 5 Minuten
Patientin Maria S. und Mediziner Stephan Baldus am Dienstag bei der Nachuntersuchung im Herzzentrum der Uniklinik

Patientin Maria S. und Mediziner Stephan Baldus am Dienstag bei der Nachuntersuchung im Herzzentrum der Uniklinik

  • „Lohnt sich das noch?“ wird öfter gedacht als laut gefragt. Denn Klinik-Patienten, die sich teuren Operationen unterziehen, werden immer älter.
  • Operationen im hohen Alter sind oft riskant. Warum trotzdem noch häufig operiert wird, erklärt ein Experte von der Kölner Uniklinik.
  • Dort wurde Maria S. vor vier Wochen am Herzen operiert – mit 101 Jahren. Wir haben die Kölnerin bei der Nachuntersuchung besucht.

Köln – Aufrecht sitzt sie, strahlt und erzählt Anekdoten aus ihrem Berufsleben – obwohl das schon ein halbes Menschenleben zurückliegt. Sie habe ja noch alles auf der Schreibmaschine geschrieben, sagt die Frau, die einst leitende Mitarbeiterin der Kölner Bezirksregierung war, und lacht. Maria S. trägt die grauen Haare etwas länger, wirkt rüstig und voller Lebensfreude, als sie in einem Patientenzimmer im Herzzentrum der Uniklinik auf den Professor wartet.

Erst vor vier Wochen hatte sie Stephan Baldus am Herzen operiert – und das im Alter von 101 Jahren. „Sie ist sicherlich eine der ältesten Patienten, die mit dieser Technik an der Herzklappe operiert worden sind“, sagt Baldus und klingt durchaus stolz.

„Ich mache noch ein bisschen weiter“

Die gebürtige Kölnerin hatte einen sogenannten Sehnenfadenabriss an einer der vier Herzklappen erlitten. Dadurch war die Klappe undicht, und Blut floss zurück in die Lunge. „Ich habe überhaupt keine Luft mehr bekommen. Nach zwei Schritten war die Luft aus“, sagt Maria S. Außerdem hatte sie extreme Wassereinlagerungen. Beide Beschwerden sind heute wesentlich verbessert. „Ich mache noch ein bisschen weiter“, sagt die 101-Jährige.

Die Mitralklappe bestehe aus zwei Segeln, die den Rückfluss von Blut in die linke Vorkammer des Herzens verhindern, erklärt der Herzspezialist. Die Segel seien durch Sehnenfäden in der Herzkammer befestigt – bei einem Abriss eines solchen Fadens schlage das Klappensegel um, und die Mitralklappe sei plötzlich nicht mehr dicht.

Brustraum öffnen sei zu riskant

So war es auch bei Maria S. Den Brustraum und das Herz zu öffnen, um den Sehnenfaden wieder zu fixieren, sei in dem hohen Alter zu riskant. Doch mit Medikamenten konnte Maria S. nicht mehr weitertherapiert werden. Mutig entschied sie sich für den Eingriff. Dabei wurde ein Katheter über eine Punktion in der Leiste eingeführt und bis zum Herzen gesteuert. An der Spitze war ein etwa ein Zentimeter langer Clip, eine kleine Klammer, die beide Segel zusammendrückt und so das lose Segel fixiert.

Das Ergebnis: Die Mitralklappe ist nun wieder dicht. Eineinhalb Stunden dauerte die Operation, die in Deutschland etwa 5000-mal pro Jahr vorgenommen werde. Die Vollnarkose sei eigentlich nur nötig gewesen, weil durch die Speiseröhre per Ultraschall Bilder der Operation geliefert werden mussten, so Professor Baldus. „Es ist toll, dass mit einem so kleinen Eingriff eine solche Wirkung erzielt werden kann“, sagt Maria S. bei ihrer Nachuntersuchung.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die 101-Jährige wohnt heute im etwa 60 Kilometer entfernten Bad Hönningen in einer Pflegeeinrichtung – „zumindest bin ich am Rhein geblieben“, sagt sie lächelnd. Im Alter von 90 Jahren hat sie ihren eigenständigen Haushalt in Köln aufgegeben, lebt aber auch in Bad Hönningen noch sehr eigenständig. „Wenn jemand physisch noch so vital ist, interessiert das numerische Alter nicht. Dann möchten wir den Therapiewunsch auch erfüllen“, so Baldus.

„Ich bin immer zu Fuß gegangen“

Vor der Operation hatte die Patientin keine Angst. Es sei eine Entscheidung „zwischen Pest und Cholera“ gewesen. Schließlich waren die Beschwerden durch die Luftnot und die Wassereinlagerungen groß. „Das Risiko war es wert. Auf Berge steige ich nicht mehr, aber ich bin wieder lebendig geworden“, so die 101-Jährige.

Außer ihres Herzklappendefektes gehe es ihr relativ gut, sagt Maria S. Was das Geheimnis ihres langen und gesunden Lebens sei? „Ich bin immer zu Fuß gegangen und nie selber Auto gefahren“, sagt sie. Und ihre Wohnung in Köln war im dritten Stock – ohne Aufzug.

Klinik-Patienten werden immer älter 

„Lohnt sich das noch?“ wird öfter gedacht als laut gefragt. Operationen an hochbetagten Patienten sind eine Gratwanderung für Ärzte und Patienten. Was ist unangemessen? Es gibt keine definierte Altersgrenze für OPs an der Kölner Uniklinik. Für Ärzte ist die gesundheitliche Verfassung entscheidender als das numerische Alter. Es handelt sich um einen gemeinsamen Abwägungsprozess.

In der Uniklinik ist das Durchschnittsalter aller stationären Patienten von 43 Jahren (1997) auf 52 Jahre (2017) gestiegen – in den vergangenen 20 Jahren also um circa zehn Jahre. Insbesondere die Patientengruppe zwischen 75 und 85 ist stark angewachsen. Sie lag 2008 bei über 6000 vollstationären Patienten und 2014 bei über 10 000. Die Zahl der Operationen an über 95-Jährigen hat sich in Deutschland annähernd verdoppelt: von 22 660 (2005) auf 40 710 (2018), so das Statistische Bundesamt. Bei 85- bis 90-Jährigen von 259 722 (2005) auf 612 548 (2018); bei 80- bis 85-Jährigen von 708 244 (2005) auf 1 368 333 (2018); bei 75- bis 80-Jährigen von 1 025 635 (2005) auf 1 931 651 (2018).

Die medizinische Notwendigkeit zählt

Mehr als 40 Prozent der Klinikpatienten sind über 65 Jahre alt, so die Krankenhausgesellschaft NRW. Bereits 2008 entfiel fast die Hälfte aller Krankheitskosten mit 123 Milliarden Euro auf Menschen mit einem Alter über 65 Jahren. Für die Bezahlung einer Operation spielt in der Gesetzlichen Krankenversicherung das Alter keine Rolle. „Was zählt, ist die medizinische Notwendigkeit. Und über die entscheidet der Arzt“, so der AOK-Bundesverband. Die Beitragshöhe bemisst sich nach dem Einkommen. Anders bei privaten Versicherungsunternehmen: Hier berechnet sich der Beitrag nach dem individuellen Risiko – nach Alter und Gesundheitszustand – sowie nach den gewünschten Leistungen.

Alte Patienten sind gefährdeter durch Operationen. Das Risiko für ein sogenanntes Delir – ein Demenzschub – ist erhöht und wurde in der Vergangenheit oft nicht erkannt. Viele Krankenhäuser haben zu wenig Personal, alte Patienten angemessen während ihrer Behandlung zu begleiten. Auf den Intensivstationen der Kölner Uniklinik gibt es ein postoperatives Delir-Screening. (hch)

KStA abonnieren