Corona-PandemieKölner Reit-Therapiezentrum ist in Gefahr

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sues Reiten 2 Martina Wagner und Tania

Martina Wagner mit Schulpferd Tania 

Köln-Weiß – Pablo hatte einen vereiterten Zahn. Der wurde kurz vor Weihnachten in einer Klinik entfernt, und mittlerweile geht es dem Pferd wieder gut. Nur das geschorene Fell am Kopf erinnert noch an die Operation. Pablo ist eines von neun Schulpferden des Reit-Therapie-Zentrums Weißer Bogen e.V. (RTZ) im Weißer Rheinbogen, und der medizinische Eingriff war eine große Belastung – für Pablo und für den Verein. Im vierstelligen Bereich liegen die Kosten für so eine Operation normalerweise, und Pablo war auch nicht der einzige Patient beim RTZ im vergangenen Jahr. Ein Pferd musste wegen eines offenen Bruchs nach einem Weideunfall sogar eingeschläfert und durch ein neues ersetzt werden.

Kölner Reit-Therapiezentrum in Geldnot 

Das ist besonders problematisch in Zeiten der Pandemie, denn es finden kein Reitunterricht und keine Therapie statt – und somit fallen auch die Einnahmen weg. Das wiederum hat weitreichende Konsequenzen. „Unsere Rücklagen schmelzen dahin“, sagt die RTZ-Vorsitzende Martina Wagner. „Wenn das so weitergeht, schaffen wir höchstens noch fünf bis sechs Monate“, sagt die ehrenamtliche Vereinschefin sichtlich bekümmert.

Danach könnten die laufenden Kosten in Höhe von 14000 Euro pro Monat nicht mehr gedeckt werden – für die Pacht, die Boxenmiete, die Abgaben, für den Hufschmied, die Ärzte. „Was dann passiert, wollen wir gar nicht aussprechen“, sagt die 57-Jährige. Sie hofft auf die Novemberhilfe vom Land und vor allem darauf, dass die Reitstunden und das therapeutische Reiten so bald wie möglich wieder erlaubt werden.

Kein Unterricht, keine Patienten 

Zwar sei das freiwillige Engagement im Verein riesig. „Die einen äppeln freiwillig die Wiesen ab oder übernehmen den täglichen Weidegang“, sagt Martina Wagner, andere würden mit Spenden helfen. Die Therapeutinnen, der hauptamtliche Reitlehrer Michael Battermann und andere versierte Vereinsmitglieder bewegen und reiten unter Aufsicht nun selbst die Pferde. Alleine. Ohne Unterricht. Ohne Patienten. Pablo und die anderen Schulpferde brauchen die Bewegung, damit sie gesund und fit bleiben. Und damit sie nichts verlernt haben, wenn der Reitbetrieb wieder beginnt. Irgendwann.

Auch der Arzt, der Pablo operiert hat, zeigte sich großzügig angesichts der angespannten Lage und verzichtete auf sein OP-Honorar. Stattdessen gab es als Entlohnung eine Riesenkiste mit Weihnachtsplätzchen. „Wir haben wie wild gebacken“, erzählt die RTZ-Vorsitzende und meint damit die Vorstands- und Vereinsmitglieder nebst Angehörigen. Trotz dieses enormen Zusammenhalts und trotz des funktionierenden Teams sei die Lage brenzlig.

Vor allem werde es mittlerweile immer schwerer, die Mitglieder von der Sinnhaftigkeit der strengen Auflagen zu überzeugen. Martina Wagner stellt sich die Frage: „Warum dürfen Physiotherapie und Ergotherapie stattfinden, Reittherapie aber nicht?“ In der 20 mal 40 Meter großen hohen Reithalle sei schließlich sehr viel Platz. Aber Einzelunterricht sei dort verboten und nicht einmal auf dem großen Außenplatz erlaubt. Das versteht Wagner nicht: „Das Pferd an sich ist doch Abstandshalter genug. Bei jedem Spaziergang kommen sich Menschen viel näher.

Eine Ausnahmegenehmigung für Reitstunden hatte der Verein beantragt, aber das Gesundheitsamt lehnte ihn ab. 

Hippotherapie ist für viele Patienten essenziell 

„Der Freitagstermin fehlt uns enorm“, sagt ein Vater mit Tränen in den Augen. Seine mehrfach behinderte Tochter nimmt seit beinahe 20 Jahren mit großer Begeisterung und nachweisbaren Fortschritten die Hippotherapie des Vereins in Anspruch. Mittlerweile ist die Tochter 36 Jahre alt. Sprechen kann sie nicht, aber sie kann sich äußern. Und sie zeige ganz deutlich, dass es ihr gut tue, wenn sie für eine Weile den Rollstuhl verlassen und sich auf dem Pferderücken gemächlich nach vorne bewegen und so ein Stück Bewegungsfreiheit genießen könne, sagt Martina Wagner. „Manchmal setzen sich die Patientinnen und Patienten zunächst sehr verkrampft und gekrümmt auf das Pferd, aber schon nach ein paar Runden lockert sich deren oft extrem hoher Muskeltonus.“ Nicht zuletzt bedeute die vom Pferd ausgehende Körperwärme immer auch emotionale Wärme.

85 Patienten nehmen an der Hippotherapie teil, einige davon leiden an Multipler Sklerose (MS), einer komplexen Nervenerkrankung, die häufig mit einer Muskelschwäche einhergeht. Eine MS-Patientin, Mitte 40, stelle immer wieder fest, dass ihr nach der Therapie das Gehen wesentlich leichter falle.

Vom Heilpädagogischen Reiten dagegen profitieren vor allem lern- und geistig behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sehr aufgeregte Patienten, etwa mit ADHS-Syndrom, würden sich von der Stimmung des Pferdes stark beeinflussen lassen – und letztlich ruhiger werden. Insgesamt nehmen 146 Menschen mit Behinderungen am therapeutischen Reiten und Voltigieren teil sowie 154 Personen am integrativen freien Reiten. All diese Patientinnen und Patienten müssen derzeit ohne die wohltuende und Lebensqualität-steigernde Förderung zurechtkommen. 

Therapeutisches Reiten im RTZ Weisser Bogen

Therapeutisches Reiten wird eingesetzt zur Förderung von Menschen mit körperlicher und oder geistiger Behinderung sowie bei psychischen und psychosomatischen Krankheiten. Angeboten werden krankengymnastische „Hippotherapie“, heilpädagogisches Reiten und Voltigieren, Reittherapie, Frühförderung und freies Reiten für Menschen mit und ohne Behinderung.  Auf dem Hof des RTZ sind neben den neun Schulpferden des Vereins noch 25 Privatpferde untergestellt. Der Reit-Therapie-Verein RTZ am Pflasterhofweg hat derzeit rund 300 aktive Mitglieder. 

www.rtz-weisser-bogen.de

Falls Vereine die Corona-Krise nicht überleben und deren Leistungen von (Privat-)Firmen übernommen würden, dann würde das wahrscheinlich teuerer und für manche unerschwinglich werden, befürchtet Martina Wagner.

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