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RückblickDemonstration außer Kontrolle

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Ein Bild der Verwüstung bot die Venloer Straße nach der Demonstration vor 20 Jahren.

Ein Bild der Verwüstung bot die Venloer Straße nach der Demonstration vor 20 Jahren.

Köln – Es war, als wäre ein Orkan durch die Venloer Straße in Ehrenfeld gefegt. Überall zersplittertes Glas, verschreckte Anwohner, geplünderte Geschäfte. So erinnern sich Zeitzeugen an den 3. Juni 1993. Etwa 200 radikale türkische Jugendliche waren marodierend durch die Venloer Straße gezogen, hatten Anwohner und Geschäftsleute in Angst versetzt, Schaufenster eingeworfen und sich eine blutige Schlacht mit der Polizei geliefert. Einen vergleichbaren Einsatz hat es seitdem in Köln nicht mehr gegeben.

Der 3. Juni ist ein Donnerstag, fünf Tage nach dem Brandanschlag in Solingen. Neonazis hatten dort das Haus der türkischen Familie Genç angezündet, zwei Frauen und drei Mädchen starben. In Köln findet am 3. Juni die offizielle Trauerfeier in der Moschee an der Inneren Kanalstraße statt. Bundespräsident Richard von Weizsäcker spricht vor 12.000 Gästen, der Brandanschlag ist zu einem Politikum geworden. Gegen 13.45 Uhr, die Feier ist noch in vollem Gang, spaltet sich eine Gruppe vorwiegend türkischer Jugendlicher von der Trauergemeinschaft ab. Es sind vor allem Anhänger der rechtsextremen türkischen Partei der Nationalistischen Bewegung, kurz MHP, besser bekannt als Graue Wölfe.

„Sie hielten Stöcke in der Hand, Schlagketten und Messer“, erinnert sich Celal B. Der gebürtige Türke war damals Sozialberater im Kölner Arbeitslosenzentrum, politisch sehr aktiv. B. war nach dem Attentat nach Solingen gereist und hatte geholfen, friedliche Protestkundgebungen zu organisieren. „Aber diese Jugendlichen in Köln“, sagt B. heute, „waren noch nicht mal in Solingen, viele stammten aus Köln, die anderen aus umliegenden Städten. Denen ging es nicht um Trauer. Das waren Bekloppte, Verrückte, die total ausgerastet sind.“

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Die Gruppe zieht zunächst Richtung stadtauswärts. „Wir wollen euer Blut, wir wollen unsere Rache“, skandieren die jungen Männer. Tobend vor Wut schlagen und treten sie gegen alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie greifen Schottersteine aus dem Gleisbett der KVB am Ehrenfeldgürtel, reißen Poller aus der Verankerung, zertrümmern mehr als 60 Schaufenster entlang der Venloer Straße, zünden Knallkörper und entreißen einem Zivilpolizisten seine Pistole. Anwohner, die ihre Fenster öffnen, werden mit allem beworfen, was greifbar ist. „Wir wollen Naziblut“, rufen die Männer. Und: „Wenn noch ein Ausländer von Rechten verletzt wird, brennen eure Städte.“

Die Polizei ist von der Wucht der Ereignisse völlig überrascht. Zwar stehen 1500 Beamte aus ganz Deutschland bereit, um die Trauerfeier zu schützen. Aber mit dieser Eskalation haben sie offenbar nicht gerechnet. „Die Gruppe war extrem aggressiv, nicht zu beruhigen“, erinnert sich ein ehemaliger SEK-Beamter im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Weil die Demonstranten auch durch Polizeiketten nicht zu stoppen sind, setzt die Einsatzleitung schließlich das SEK ein, etwa 30 Mann. Ihr offizieller Auftrag: „Lagebereinigung.“ Der Beamte erzählt es so: „Wir haben den Vorwärtsgang eingelegt.“ Die Elitepolizisten packen Schlagstöcke aus, greifen die aufgebrachten Türken an. 30 Männer werden in Gewahrsam genommen, einige durch Stockhiebe verletzt. Der Sachschaden summiert sich am Ende auf 250.000 Euro.

Als „Lehrstück“ bezeichnet Ehrenfelds Bezirksbürgermeister Josef Wirges aus heutiger Sicht die Geschehnisse vom 3. Juni 1993. „Wir hätten uns den Sorgen unserer türkischen Mitmenschen früher annehmen müssen, uns stärker solidarisch zeigen müssen“, sagt Wirges. Das habe sich inzwischen geändert. „Wir haben uns untergehakt. Heute stehen wir mit unseren türkischen Mitbürgern zusammen entschlossen gegen rechts.“

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