Serie „Schule in Not“Nur gemeinsam funktioniert Inklusion

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Britta Klostermann (v.l.), Michael Schwager, Niklas Perez-Mey und Hüseyin Klinç

Britta Klostermann (v.l.), Michael Schwager, Niklas Perez-Mey und Hüseyin Klinç

Köln – „Ich habe die anderen Schüler gesehen und mir gedacht: »Wenn die das schaffen, warum nicht ich?«“ Der 17-jährige Hüseyin Klinç erinnert sich an vergangene Zeiten, als es Lehrer nicht leicht mit ihm hatten. Aggressionen und Konzentrationsschwächen hatten dazu geführt, dass ihm der Förderbedarf „emotionale und soziale Entwicklung“ attestiert wurde. Früher hätte man gesagt, Hüseyin sei „erziehungsschwierig“. Ihm kann es heute egal sein. Sein Förderbedarf wurde schon vor zwei Jahren auch ganz offiziell gestrichen, den Sprung in die Oberstufe wird er locker schaffen. Sein Notendurchschnitt liege bei 1,5, sagt er stolz. Er will in jedem Fall studieren, „vielleicht Astrophysik“. Dass er jetzt „auf der sicheren Seite“ steht, wie er es ausdrückt, habe er seiner Schule zu verdanken – „und Lehrern, denen die Entwicklung von jedem Schüler am Herzen liegt.“

Es sind Geschichten wie die von Hüseyin, die in den vergangenen Monaten in den Debatten über die Zukunft der Inklusion an den nordrhein-westfälischen Schulen in den Hintergrund gedrängt wurden. Da ging es um überforderte Lehrer, chaotische Zustände, Kinder, die nicht richtig gefördert werden, um Geld und Stundendeputate und den Versuch, aus all dem in Wahlkämpfen Kapital zu schlagen. „Die öffentliche Wahrnehmung von Inklusion hat sich geändert“, sagt Britta Klostermann, Lehrerin und Sonderpädagogin an der Gesamtschule Holweide, die Hüseyin besucht. „Es dominieren die Horrorgeschichten. Dabei ist die Inklusion an Schulen wie unserer für alle völlig normal.“

Inklusion ist eine Haltungsfrage

Wer sich die Praxis an Schulen ansieht, die seit Jahrzehnten erfolgreich integrativ und inklusiv arbeiten, versteht schnell, dass Inklusion vor allem eine Haltungsfrage ist: „Alle müssen sich für alle Schüler zuständig fühlen“, sagt Michael Schwager, Abteilungsleider in Holweide. Niemand kann eigentlich davon ausgehen, dass der Einsatz von Sonderpädagogen an Schulen allein schon ausreicht, um erfolgreich Inklusion zu betreiben. Freilich kann man an der Gesamtschule in Holweide auch sehen: Ohne anständige Rahmenbedingungen, die auch Geld kosten, geht es nicht. Es gibt besondere Therapiebereiche und Zusatzangebote. Weil die Schule sehr groß ist und viele Förderschüler aufnimmt, arbeiten hier viele speziell qualifizierte Lehrer, Sozialarbeiter und Sonderpädagogen.

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Eine gute Organisation in Teams führt nicht nur dazu, dass sich alle Lehrer einer Klasse austauschen und gemeinsam um die Förderung der Schüler kümmern. Sie ermöglicht auch, dass Klassen immer wieder von zwei Lehrern unterrichtet werden können. „Diese Doppelbesetzung ist eine wichtige Bedingung, wenn Inklusion gelingen soll“, sagt der 19-jährige Niklas Perez-Mey. Der Abiturient sitzt mit einer spastischen Lähmung in Beinen und einer Hand im Rollstuhl. Als Schülersprecher der größten Schule Nordrhein-Westfalens fordert er von der neuen Landesregierung, dass der seit Jahren fortschreitende Abbau von Standards endet und mehr Geld für die Schulen zur Verfügung gestellt wird.

Es geht um die Verteilung von Ressourcen

Die abgewählte rot-grüne Landesregierung wollte die Inklusion in die Breite tragen. Kinder mit Einschränkungen und Förderbedarf sollten genauso frei die Schule wählen können, wie alle anderen auch. „Das ist gut und richtig“, sagt Britta Klostermann. „Aber es wird schwierig, wenn die Breite nicht ausreichend ausgestattet wird.“ Sie findet es nicht überraschend, dass sich Eltern angesichts der schlechten Ausstattung vieler Regelschulen dafür entschieden haben, ihre Kinder wieder auf eine Förderschule zu schicken. Das könne aber kein Argument gegen die Inklusion sein, nur eins gegen die schlechte Ausstattung der Schulen. „Man liest viel von den Schwierigkeiten bei der Inklusion und stellt ihr die kleinen Lerngruppen in Förderschulen entgegen“, sagt Perez-Mey. „So löst man aber nicht das Problem.“

Gesamtschule Holweide

Gesamtschule Holweide (Archivbild)

Es geht um die Verteilung von Ressourcen. Und weil das Land bei seinem Ziel, möglichst alle Schulen zu inklusiven Bildungseinrichtungen zu machen, nicht ausreichend Mittel bereit gestellt hat, klagen viele Schulen über eine Überforderung. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die meisten Lehrer an Regelschulen in ihrer Ausbildung nichts über Inklusion gelernt haben. Es fehlt an Wissen und Erfahrung, aber auch an Zeit, um sich mit der neuen Aufgabe zu beschäftigen. Die fehlt auch den Sonderpädagogen, die an die Regelschulen gegangen sind, die mit der Inklusion beginnen wollten. Weil die Zuweisung von Sonderpädagogen von der Zahl der Schüler mit Förderbedarf abhängt, müssen sie teilweise als „Einzelkämpfer“ durch die Klassenzimmer rennen, sich um Schüler unterschiedlichen Alters gleichzeitig kümmern und dann auch noch die Kollegen beraten, die von der Inklusions-Praxis wenig bis gar keine Ahnung hatten.

Nach Angaben der Bezirksregierung ist Köln nicht mit Sonderpädagogen unterversorgt – doch damit wird lediglich ein ausgeglichenes Verhältnis von Stellenpläne und Lehrkräften beschrieben. Mit dem tatsächlichen Bedarf an den Schulen müssen die Zahlen nicht unbedingt etwas zu tun haben. Eine Ressource für mehr Qualität an inklusiven Regelschulen wäre das Personal, aber auch die Ausstattung der vielen Sonder- und Förderschulen, die sich das deutsche Schulsystem leistet. Tat sich schon die alte Landesregierung schwer damit, hier umzuverteilen, hat die neue Landesregierung sogar Mini-Sonderschulen, die gesetzliche Mindestschülerzahlen unterlaufen, vorläufig ein Existenzrecht zugesichert.

Die Entwicklung, immer mehr Regelschulen für die Inklusion zu gewinnen, ist erst einmal gestoppt. Das Ziel, das möglichst alle alles machen und jedes Kind egal mit welchem Förderbedarf aufnehmen, liegt auf Eis. Selbst die unermüdlichen Inklusions-Antreiber von dem in Köln gegründeten und bundesweit aktiven Elternverein Mittendrin glauben, dass man für eine Übergangszeit mit Schwerpunktschulen arbeiten und somit die freie Schulwahl für behinderte Kinder wieder einschränken muss. Die Stadt Köln, die sich immer als Vorreiter beim Thema gesehen hat, drückt ebenfalls auf die Bremse. Nachdem es in den vergangenen Jahren gelungen war, immer mehr Kinder mit Beeinträchtigungen in die Regelschulen zu integrieren und die Zahl der Schulen, die mitmachten, immer weiter anstieg, gehe es nun um die „Konsolidierung der bestehenden Standorte fürs das Gemeinsame Lernen“.

Dass alle nicht alles können müssen, scheint mittlerweile Konsens. So könne zum Beispiel nicht jede Schule hochspezialisierte Therapien anbieten, sagt auch Inklusionsbefürworter Michael Schwager. Doch mit der Änderung der Zielvorgaben verbinden sich auch Gefahren: Viele könnten sich einfach verweigern, einzelne Lehrer bis hin zu einer ganzen Schulform könnten sich einfach entziehen. Das Land zwingt seine Pädagogen noch nicht einmal zu Fortbildungen. Die machen nur die, die Lust dazu haben.

Dabei warten längst neue Herausforderungen auf das Lehrpersonal: „Wir müssen uns viel mehr mit dem Thema Armut beschäftigen“, sagt Schwager. Die Teilhabemöglichkeiten von Kindern aus einkommensschwachen Familien seien beschränkt. Ihnen die gleichen Chancen zu sichern, sei eine wichtige Aufgabe. Nicht nur die Einbeziehung von Behinderten hat mit Inklusion zu tun. Es geht schließlich um die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes in gemischten Lerngruppen.

Mit der Serie „Schule in Not“ beschreibt der Kölner Stadt-Anzeiger die Herausforderungen für das Bildungsangebot. Mehr Infos zur Serie gibt es hier.

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