Sprachforscher im InterviewWie Kinder viel mehr und viel lieber lesen lernen

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Wenn Kinder mit ihren Eltern Bilderbücher betrachten, bekommen sie einen Zugang zu Texten.

Wenn Kinder mit ihren Eltern Bilderbücher betrachten, bekommen sie einen Zugang zu Texten.

  • Die Hälfte der deutschen Schüler gilt als „Lesemuffel“.
  • Sprachforscher Michael Becker-Mrotzek erklärt im Interview, warum viele Kinder ungern lesen und was Eltern dagegen tun können.

Herr Becker-Mrotzek, endlich Zeit zum Lesen heißt es in der Corona-Krise oft. Glauben Sie, dass junge Menschen, die sonst wenig lesen, jetzt das Buch entdecken?

Nein. Unter deutschen Schülern gibt es eine kleine Gruppe, die viel und gerne liest. Der größere Teil tut das nicht. In der Pisa-Studie 2018 haben wir gesehen, dass über die Hälfte der deutschen Schüler „Lesemuffel“ sind. Das heißt, sie lesen von sich aus nicht gerne, sondern nur, wenn sie müssen. Insgesamt hat die Lesefreude in Deutschland in den letzten zehn Jahren überdurchschnittlich stark abgenommen. Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich das in Corona-Zeiten ändert. Kinder, die keinen Spaß am Lesen haben, entwickeln den selten von sich aus.

Warum nicht?

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Sie können häufig nicht flüssig lesen, es fehlt an Lesekompetenz. Wenn man einen Text Wort für Wort lesen muss, ist das Arbeitsgedächtnis belastet. Oft fehlen grundsätzliche Strategien: Wie gehe ich überhaupt an einen Text ran? Wenn ein Grundschüler das nicht weiß, die Texte aber im Verlauf der Schulzeit anspruchsvoller werden, dann macht es einfach keinen Spaß. Der Schüler liest dann immer weniger, weil er einem Text gar keine Informationen entnehmen kann.

In welchem Alter wird die Grundlage für das Lesevermögen gelegt?

Die basalen Lesefähigkeiten – flüssiges Lesen und die richtige Strategie – müssen in der Grundschule vermittelt werden. Die Grundlagen dafür werden im Kita-Alter geschaffen. Wenn Eltern mit ihren Kindern gemeinsam Bilderbücher betrachten und ihnen daraus vorlesen, beginnt eine Form von Textverständnis. Kinder lernen, sich in eine andere Welt als die reale hineinzuversetzen. Hier gibt es sozial bedingt große Unterschiede. Wenn Kindern Zuhause nicht vorgelesen wird, springt die Kita ein. Das kann sie aber oft nicht in dem Umfang leisten, in dem es nötig wäre. Die zweite Phase ist der Erwerb der Schriftsprache in den ersten beiden Klassen. Wenn zu diesem Zeitpunkt nicht gezielt gefördert wird, tritt ein, was ich oben beschrieben habe.

Kann man diese Differenz später noch ausgleichen?

Ja, es gibt Programme und Trainings, die die Lesefertigkeit unabhängig vom Alter fördern. Sie werden aber relativ selten in Schulen eingesetzt. Lehrer setzen immer noch stark auf die eigene Lesemotivation. Das reicht aber nicht bei den Kindern, denen es an den basalen Fertigkeiten fehlt.

Was können Eltern tun, damit ihre Kinder gerne lesen?

Wie gesagt: Es fängt mit Vorlesen an. Dabei spielt die Sprache übrigens keine Rolle. Eltern, die nicht gut Deutsch sprechen, sollten Kindern in ihrer Familiensprache vorlesen. Auch bei älteren Kindern hat Vorlesen noch positive Effekte. Man kann zum Beispiel abwechselnd mit dem Kind laut lesen. Außerdem: Lassen Sie ihr Kind entscheiden, ob es ein Lexikon, eine Tiergeschichte oder Science Fiction lesen will! Nutzen Sie die unterschiedlichen medialen Formen! Digitale Bücher bieten nochmal besondere Anreize. Eltern sollten dabei aber nicht versuchen, den Schulunterricht zu imitieren.

Welche Unterschiede macht es, ob ein Kind ein Buch liest oder sich auf der Suche nach Informationen durch eine Internetseite scrollt?

Wir wissen aus Studien, dass das Lesen von informativen Texten nach wie vor besser auf Papier als auf digitalen Geräten gelingt. Lesen im Internet erfordert zusätzliche Kompetenzen. Zum Beispiel kann man auf einem kleinen Smartphone-Bildschirm nur einen kleinen Ausschnitt lesen, der Überblick über den ganzen Text fehlt. Online gibt es Verlinkungen. Als Leser muss ich mich ständig entscheiden, ob ich weiterlese oder dem Link folge. Im gedruckten Text ist der rote Faden vorgegeben. Die dritte Herausforderung: Im Internet muss ich immer auch die Glaubwürdigkeit der Quelle einschätzen. Das muss man bei einem Buch oder einer Zeitung in der Regel nicht, weil eine Redaktion oder ein Verlag dahintersteht. Wer als geübter Leser diese zusätzlichen Hürden meistert, kann im Internet genau so gut wie in einem Buch lesen.

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Experten sind sich einig, dass lange Schulschließungen die Bildungsungleichheit verstärken wird. Welche Rolle spielt die Lesekompetenz beim selbstständigen Lernen Zuhause?

Eine sehr große. Die Lese- und Schreibfähigkeit sind zentrale Faktoren, weil in jedem Fach, abgesehen von Sport oder Kunst vielleicht, gelesen und geschrieben wird. Deshalb testet Pisa ja auch alle sechs Jahre als Schwerpunkt die Lesekompetenz – und deshalb ist es auch so wichtig, dass kleine Kinder bald wieder in die Kita gehen können. Gerade Kinder aus Familien mit geringer Bildung und niedrigem sozioökonomischem Status brauchen die Anregungen, das Vorlesen, sonst fehlt später der Zugang zur Schrift.

Woran fehlt es vielen Kindern aus benachteiligten Familien beim Homeschooling noch?

Die technischen Voraussetzungen sind problematisch. Viele Kinder haben nur ein Smartphone Zuhause, keinen Bildschirm, keinen Drucker. Ein weiteres großes Problem ist, dass Eltern in bildungsfernen Familien nicht bei den Hausaufgaben helfen können. Und gerade das Feedback durch einen Lehrer macht den Unterricht aus.

Zur Person

Michael Becker-Mrotzek ist Professor für deutsche Sprache und Didaktik an der Universität zu Köln und Direktor des Mercator-Instituts. Er forscht zu Sprachbildung und Sprachförderung.

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