StadtrundgangWie geht es Köln und den Menschen sechs Monate nach dem Shutdown?

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Lange Schlange vor dem Kölner Dom

  • Vor sechs Monaten hat das Coronavirus das Leben in Köln lahmgelegt.
  • Die Vögel sind weg, die Autos mittlerweile wieder zurück, die Menschen hoffen auf eine Explosion der Lebensfreude – und arrangieren sich mit dem Virus.
  • Wie hat sich das Leben in Köln verändert? Ein Rundgang.

Köln – An das Vermummungsgebot haben sich die Menschen in Mülheim so gewöhnt wie an die Videoüberwachung im Bezirksrathaus. Zwei Jugendliche, die durch die Drehtür gehen, tragen zur Atemmaske Sonnenbrille und Baseballcap. Vermummte überwachen, nicht Vermummte bestrafen: Sechs Monate nach dem so genannten Lockdown wundert das niemanden mehr. Die, die noch nicht wissen, dass die Maske Mund und Nase bedecken muss, weist Hasan Tapar auf dem Wochenmarkt am Wiener Platz bestimmt darauf hin. Seit vier Monaten gibt Tapar zu Marktzeiten zwischen 8 und 14 Uhr auf dem Platz den Masken-Guide. „Die meisten halten sich an die Regeln, ein paar schimpfen, es gab auch schon Leute, die mich angegriffen haben“, sagt er. „Es ist jeder Typ dabei: entspannt, rücksichtsvoll, ängstlich, aggressiv, irre.“

Tapars treffende Zustandsbeschreibung lässt sich auch so übersetzen: Viele haben sich an das Leben mit dem Virus gewöhnt, aber nicht alle. Jeden trifft es anders, jeder reagiert anders. Es bleibt widersprüchlich, auch, weil vieles ungewiss geblieben ist.

Die Infektionszahlen sind so hoch wie Mitte April, die Angst in den Blicken ist einer introvertierten Gelassenheit gewichen. Vor den Apotheken, Hausarztpraxen und Bäckereien auf der Frankfurter Straße stehen die Menschen in Abstandsreih’ und Glied, in Bussen und Geschäften tragen sie Masken. Die Hinweise zu den Corona-Regeln, im Frühjahr auf den Schildern der Hauptverkehrsadern im Duz-Imperativ formuliert („Bleib zu Hause!“, „Rette Leben!“, „Halte Abstand!“) sind höflicher geworden. „Mit Abstand der beste Kunde“ zu sein, wie vor einigen Cafés zu lesen ist, will man fast gern.

Köln: Kämpfe um das Klopapier schon fast vergessen

Noch ist es leicht, sich an die Regeln zu halten. Der warme, trockene Spätsommer, dessen Folgen im Königsforst am sterbenden Fichtenwald zu besichtigen sind, sorgt für volle Terrassen. Die Fenster der Schulen stehen weit auf. In der Friesenstraße sitzen Mohamad Hafez und Ibraham Nusair vor ihrem Imbiss Damaskus-Haus und telefonieren mit einer Frau vom Stromkonzern.

Sie schäkern ein bisschen, die Frau spielt mit. „Hören Sie, wir brauchen dringend Geld“, sagt Nusair. „Wenn Sie morgen überweisen, kriegen Sie bei uns ein Shawarma gratis!“

Der Imbiss hatte von Mitte März bis zum 1. Mai geschlossen, jetzt „machen wir nur noch die Hälfte Umsatz“, sagt Hafez. Mit knapp 1900 Euro weniger Stromkosten könnten sie rechnen, sagt die Frau am Telefon. „Das Geld brauchen wir eigentlich gestern“, sagt Nusair. „Geht das?“ Ein Gast schaltet sich ein. „Meine Familie und ich wurden zu Beginn des Lockdowns aus Ägypten ausgeflogen“, sagt er. „Wir wären lieber dort geblieben, Klopapier gab es da genug – die Ägypter haben viel cooler reagiert als die Deutschen.“

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Fast vergessen: Die Kämpfe ums Klopapier, das Diebe sogar aus einem Gemeindehaus einer benachbarten Kirche stahlen; die rationierte Milch- und Mehlabgabe bei Aldi. Die Hamsterkäufer. Die vielen Toten in Altenheimen. Die Dramen von Kranken, Sterbenden und Angehörigen, die sich nicht sehen durften. Im Frühjahr waren viele Menschen redselig, weil sie Sorgen hatten. Die gemeinsamen Sorgen erzeugten Solidarität. „Gerade die Nachbarschaftshilfe, das füreinander Einkaufen, fand ich eindrucksvoll“, sagt Andreas Hupke, Bezirksbürgermeister für die Innenstadt. Mitte März stand Hupke umringt von Sorgenvollen auf dem Chlodwigplatz. Er erinnert sich, wie täglich Dutzende Hilferufe per Mail und Telefon bei ihm eingingen. „Da waren so viele, die nicht wussten, wie sie den nächsten Einkauf oder die Miete bezahlen sollten, das hat mich bewegt.“

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Die Sorgen mussten raus, auch beim Klatschen für die Ärzte, Pfleger und Kassiererinnen, abends, auf den Balkonen. Applaus, der erst solidarisch klang und irgendwann hilflos. Immerhin ersetzte er das Dröhnen der Motoren auf den Straßen, auf denen man nachts spielen konnte, da kein Auto mehr fuhr. Leise war die Stadt plötzlich und menschenfreundlich. 

„Vögeln dürfen die Leute, tanzen nicht“

Der Wirt Peter Heising erzählte in seiner geschlossenen Kneipe auf der Friesenstraße, dass er begonnen habe, wieder spazieren zu gehen, Kazim Demirbas vom Restaurant Orient Grill am Ring, dass er frühmorgens die Vögel höre. Heising geht noch immer gern spazieren, „ich habe während der Pandemie zehn Kilo abgenommen, da bin ich wohl eine Ausnahme“, sagt er. Demirbas, der am frühen Abend vor seinem Imbiss sitzt und Backgammon spielt, hört die Vögel schon lange nicht mehr. „Die Autos waren nach sechs Wochen wieder da.“ Die Kunden nicht. 40 Prozent weniger Umsatz mache er aktuell, „uns fehlen die Leute von den Discos“, sagt er. „Ist ja irgendwie komisch: Die Bordelle sind wieder auf, vögeln dürfen die Leute, tanzen nicht.“

Leer und still ist am Abend der Brüsseler Platz, die Stadt hat das Verweilverbot dort bis Anfang Oktober verlängert, drei Männer widersetzen sich trotzig beim Bier. Die Massen stehen und sitzen jetzt vor den Kneipen und Cafés in der Nachbarschaft. „Verstehen muss man das nicht“, sagt Anwohnerin Agathe beim Drehen einer Zigarette, „jetzt sind einige Nebenstraßen überfüllt, und gab es überhaupt schon mal nachweislich einen Infektionshotspot draußen?“

Agathes Frage erzählt davon, dass über manches doch eher wenig diskutiert wird. Die Verweilverbote auf Plätzen, die Maskenpflicht für Grundschüler auf dem Pausenhof. Das Paradox, dass die Landesregierung die Maskenpflicht für den Unterricht aufhob, sie aber an den meisten Schulen „auf freiwilliger Basis“ weiter gilt – und Kindern so eine Verantwortung überträgt, die eigentlich Erwachsene übernehmen sollten. Corona hat sich als kommunikatives Minenfeld entpuppt. Viele sagen lieber nichts als etwas Falsches. Aber was ist richtig, und was falsch? „Dat is’ doch alles Driss, mer jonn mit dem Virus alle kapott“, sagt Anna-Maria Zimmermann, die an einem Vormittag mit ihrer Freundin Erika Wessling vor der Kneipe „Em Scheffge“ an der Severinstraße sitzt.

Wessling und Zimmerman arbeiten als Raumreinigerinnen, normalerweise putzen sie in der Technischen Hochschule, jetzt sind sie in Kurzarbeit, weil die Lehre online läuft. „Die, die eh wenig haben, haben jetzt fast nix mehr“, sagt Zimmermann und nimmt einen Schluck Kölsch. „So ist es immer: Die kleinen Lück trifft es am härtesten“, sagt Wessling. „Immerhin können wir et uns hier widder jot jeihen losse.“ Sie prostet ihrer Freundin zu.

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Gastronom Heising hat die Krise im März stoisch genommen, die Stille genossen und von einer „Explosion der Lebensfreude“ nach der Pandemie geträumt. Sechs Monate später herrscht im Schank- und Tanzraum am Abend Leere, draußen sitzen 25 Leute beim Barbecue, sieht heimelig aus, ist aber nicht kostendeckend. „Wir überlegen jetzt, für viel Geld Luftreiniger anzuschaffen, die die Viren unschädlich machen“, sagt Heising. „Die Leute würden gern auf den Tischen tanzen, aber das geht eben noch nicht.“

Es sei denn bei illegalen Partys im Park, auf Familienfeiern oder als solchen getarnten Festen. 46 Veranstaltungen, die gegen die Corona-Verordnungen verstoßen, hat das Ordnungsamt bislang dokumentiert. Immer wieder wenden sich auch besorgte Bürger an die Behörden, wenn sich ein paar Menschen auf einem Balkon versammelt haben. Der Grat zwischen berechtigter Sorge und Denunziation, Egoismus und Solidarität, Angst und Irrsinn bleibt schmal.

„Einige Jung-Siegfrieds, die glauben, sie seien unsterblich, akzeptieren Corona nicht“, sagt Bezirksbürgermeister Hupke. Die Betreiber des Bierpilzes am Rheinboulevard bekommen von Halbstarken zu hören: „Corona, was ist das?“ Die Polizei setzt Mannschaftswagen und Reiter ein, um am Rheinufer aggressive Jugendliche, die von dem Virus nichts wissen wollen, unter Kontrolle zu halten. Manchen tut Corona nichts, andere sind tot. Zu reden gibt es weiter viel über das Virus und die Folgen für die Stadt. Auch, weil manches ungesagt bleibt. Und niemand weiß, was morgen wird.

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