Starkstrom-Unfall von Köln-KlettenbergDer Tag, an den sich Jona nicht mehr erinnert

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Die Mutter des verunglückten Schülers ist fassungslos darüber, dass dieses Bahngelände für jedermann problemlos zugänglich ist.

  • Berührt hat er sie nicht, die Starkstrom-Leitung. Jona wurde vom Lichtbogen getroffen, als er in Klettenberg auf die Plattform eines Waggons stieg. Er erlitt schwerste Verbrennungen und ist heute querschnittsgelähmt.
  • Ein Jahr nach dem schrecklichen Unfall blicken wir zurück. „Das hier ist eine Einladung zur Lebensgefahr“, sagt seine Mutter heute über den Aufgang zur Klettenberger Gleisanlage.
  • Bei ihr hat sich der Tag in das Gedächtnis eingebrannt. Jona erinnert sich an nichts, doch er muss mit den Folgen leben.

Köln – Der 16. Juni 2019 fehlt in Jonas Erinnerung. Auch von den Tagen danach weiß er nichts. Glücklicherweise ist die Medizin heute in der Lage, Unfallopfern unerträgliche Schmerzen zu ersparen, indem man sie ins künstliche Koma versetzt. Als der 17-Jährige auf der Intensivstation für Verbrennungsopfer des Klinikums Merheim zu sich kommt, geht es ihm den eigenen Worten nach wie jemandem, der wach wird, nachdem er unbeabsichtigt eingenickt ist.

Jona ist verwirrt und außerdem „halb weggetreten“ aufgrund der massiven Schmerzmittel, die man ihm verabreicht. „Ich hatte keine Ahnung, wo ich bin und wie lange schon.“ Anders als bei ihrem Sohn, hat sich bei Judith Bals (Name geändert) die Erinnerung an diesen 16. Juni und die Tage, Wochen und Monate danach tief ins Gedächtnis gebrannt. Als es morgens um 3.50 Uhr bei ihr klingelt, schreckt sie aus dem Tiefschlaf hoch, rechnet jedoch nicht damit, dass etwas geschehen sein könnte, was sie, die gesamte Familie sowie deren Umfeld aus der Bahn werfen würde.

„Wer ist denn da?“

Beim zweiten Läuten denkt sie: „Mann, weshalb hat der keinen Schlüssel eingesteckt?“ Beim dritten Klingeln schnappt sie sich auf dem Weg zur Tür etwas zum Überziehen und fragt durch die Sprechanlage: „Wer ist denn da?“ – Als keine Antwort kommt, öffnet sie die Wohnungstür und sieht sechs oder sieben Menschen vor der Haustür – darunter Polizisten, zwei Notfallseelsorger und Nikolai, den besten Freund ihres Sohnes seit Kindergarten-Tagen. Ihr Herz beginnt zu rasen. Ein Polizist sagt: „Ihr Sohn hatte einen sehr schweren Unfall“ – „Ist er tot?“, fragt Bals entsetzt. „Nein, aber er ist sehr schwer verletzt.“ Im selben Moment hört die Mutter ihren eigenen Schrei durchs Treppenhaus gellen.

Wenig später werden Judith Bals, ihre noch zu Hause wohnende Tochter (19) und der unter Schock stehende Nikolai im Rettungswagen nach Merheim gebracht. Dort will Bals sofort zu ihrem Sohn und dreht schier durch, als man ihr das verwehrt. Sie erfährt, dass mehrere Ärzte gerade im OP um das Leben ihres schwerstverbrannten Kindes kämpfen. „Zu wissen, er wird vielleicht sterben, ohne dass ich ihn noch sehen kann“, macht sie wahnsinnig. Zugleich versucht ihr Kopf zu begreifen, was in dieser Nacht geschehen ist.

Eine kleine Feier im Schrebergarten

Jona, sein Freund Nikolai und drei weitere Jungs haben in einem Schrebergarten gefeiert. „Sie haben getrunken, aber nicht exzessiv“, betont Bals. Ein Handy-Video, mit dem die Mutter sich nach dem Unglück konfrontieren muss, zeigt, wie die Gruppe fröhlich-aufgedreht den Heimweg antritt und in eine Unterführung marschiert. Das ist das letzte, woran Jona sich erinnern kann. Er sei früher oft mit dem Rad da durch gekommen, berichtet der inzwischen 18-Jährige. Acht rot-weiße Poller verhindern die Durchfahrt von Autos. Deshalb eignet er sich grundsätzlich so gut zum Partyfeiern. Man störe keinen „und die Musik hallt gut“, sagt Jona.

An einer Stelle, wo der Tunnel unterbrochen ist, befindet sich seitlich eine Treppe. Acht brüchige Stufen führen zu einem Eisentor, das früher, wie Jona sich zu erinnern glaubt, „mit schweren Ketten gesichert“ war. Seit Jahren steht dieses Tor jedoch offen. Auch, als die kleine Gruppe durch die Unterführung kommt, ist es unverschlossen. Die Jungs gehen durch, steigen ein paar Stufen hoch und stehen direkt an den Gleisen.

Jona war nicht der Erste

Es müssen schon viele Leute über diesen Weg auf das Bahn-Gelände gelangt sein. Scherben von Bierflaschen, Getränkedosen und verwitterte Tabakbeutel belegen das. Der gesamte Aufgang ist bunt besprüht. Ganz oben ist nur mit Mühe ein großteils von wilden Brombeeren überwuchertes Schild zu erkennen. Das Dreieck mit dem roten Hochspannungs-Symbol ist verblichen und mit Graffiti übersprüht. Selbst wenn den Jugendlichen das Warnschild aufgefallen wäre, hätten sie ihm wohl keine Bedeutung beigemessen, glaubt Judith Bals. Keinem sei klar gewesen, dass man auch ohne Berührung einer Hochspannungsleitung vom Strom getroffen werden kann.

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In der zweiten Schienenreihe reiht sich ein Güterwaggon an den nächsten. Was Jona in dieser Nacht bewogen hat, auf eine Plattform zwischen zwei Waggons zu klettern, kann er heute nicht mehr sagen. In dem Moment, als er sich dort aufrichtet – sein Kopf ist noch gut einen Meter von der Hochspannungsleitung entfernt – trifft ihn der Strom. Er schlägt an seiner rechten Schulter ein, verbrennt seinen Arm, schießt durch die gesamte rechte Körperseite bis in beide Füße. Der junge Mann wird vor den Augen der Kumpels durch die Luft gewirbelt und kracht so unglücklich auf eine Waggon-Achse, dass er sich beim Aufprall die Wirbelsäule bricht und somit nicht nur schwerste Brandverletzungen, sondern auch eine Querschnittslähmung davonträgt.

„Es war nicht mal eine Mutprobe“

„Es war jugendlicher Übermut. Es war nicht mal eine Mutprobe“, sagt Judith Bals, die seitdem oft mit dem Fahrrad durch die Unterführung gekommen ist und fassungslos auf das noch immer offene Eisentor gestarrt hat. „Das hier ist eine Einladung zur Lebensgefahr!“ Sie habe „geheult, geschrien, das ganze Leben verflucht“, bekennt die Lehrerin, die nach dieser Katastrophe vor allem eines möchte: Dass jedes Kind um die Gefahr des „Lichtbogens“ weiß und sich klar macht, dass selbst ohne direkte Berührung einer Stromleitung und sogar im Abstand von anderthalb Metern ein tödlicher Schlag erfolgen kann.

„Jedes Jahr trifft es acht bis zehn Menschen“, habe man ihr im Klinikum Merheim gesagt, so Bals. Während man dort um Jonas Leben kämpft, prallt eine Taube ans Zimmerfenster. Jonas Mutter zeigt ein Handy-Foto, das sie von dem weißen Abdruck auf der Scheibe gemacht hat. Schemenhaft glaubt man, einen Engel mit ausgebreiteten Flügeln erkennen zu können. „Da wusste ich, dass Jona überlebt.“

Quälende Stunden

Wie viele quälende Stunden Mutter und Schwester am Bett gewacht haben, während er im Tiefschlaf lag, weiß Jona nicht. Rückblickend sind für ihn die Schmerzen und vor allem die Träume während des Komas am schlimmsten gewesen. Während der fünf Wochen in Merheim werden mehrere Hauttransplantationen vorgenommen. Dann wird der Gesamtschüler in eine Spezialklinik für Wirbelsäulenverletzungen nach Bochum verlegt, wo er vier Monate bleibt.

Heute gehe es ihm ganz gut, versichert der junge Mann mit Baseball-Käppi und lächelt. „Ich versuche immer, die positiven Sachen zu sehen und mich nicht an den negativen aufzuhängen“, Die Frage, „weshalb ausgerechnet ich?“, habe er sich eigentlich nie gestellt. Er sei froh, wieder zur Schule zu können, weil das dem Tag mehr Struktur gebe. Was ihn ärgert, ist, dass gerade jetzt sein wichtigstes Fortbewegungsmittel, das Handbike, in Reparatur sei.

Rückhalt in der Freundesgruppe

In Momenten der Niedergeschlagenheit finde er Rückhalt in der Freundesgruppe. Vor allem mit Nikolai fühle er sich sehr verbunden. Nervig findet er die Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse oder der Stadt Köln, wenn es etwa darum geht, wie viel Hilfe er bewilligt bekommt. Zum Glück war die Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebt, bereits barrierefrei. Während der langen Reha in Bonn hat Jona unter anderem gelernt, alleine vom Bett oder Sofa in den Rollstuhl zu kommen. Bei vielen anderen Dingen braucht er Unterstützung. Eine Hilfe zur Bewältigung seiner Situation hat der 18-Jährige allerdings schon in die Wiege gelegt bekommen. „Ich war immer schon eher Optimist.“

Sich am Jahrestag des Unglücks mit dem Ort des Geschehens zu konfrontieren, fällt Judith Bals sichtlich schwer. Sie tut es, um dort an den Gleisen eine Botschaft loszuwerden: „Leute, auf einen Waggon zu klettern, ist keine Heldentat. Ihr sterbt dabei. Oder ihr landet, wenn ihr Glück habt, im Rollstuhl.“

Nachdrücklich vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit der Frage konfrontiert, weshalb der Zugang zu den Gleisen so lange ungesichert gewesen sei, hat die Bahn das Tor unverzüglich geschlossen. Zudem hat sich Uwe Brockmann, Geschäftsführer des Bochumer Care Centers auf Bitte dieser Zeitung direkt Jonas wichtigstem Fortbewegungsmittels angenommen und auf unbürokratischem Weg dafür gesorgt, dass das Handbike als erstes repariert und umgehend nach Köln gebracht wurde.

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