Sterben an Einsamkeit oder CoronaDer Blick in Pflegeheime macht mich wütend!

Lesezeit 4 Minuten
pflegeheim

Fast jeder zweite Covid-Tote in NRW lebte in einem Alten- oder Pflegeheim. (Symbolbild)

  • Der schwerkranke Vater unserer Autorin liegt im Pflegeheim und schaut abwechselnd die Decke oder den Fernseh-Bildschirm an.
  • Seine Frau, mit der fast 60 Jahre verheiratet ist, hat er seit mehr als vier Wochen nicht gesehen.
  • Diese beiden Menschen klammern sich an eine einzige Hoffnung: die Hoffnung, einander wieder begegnen zu können. Sterben an Einsamkeit oder Sterben an Corona? Sie würden vielleicht Letzteres wählen.
  • Der Blick in den Alltag der Pflegeheime macht einen als Angehörigen ohnmächtig und wütend. Wie kann man engste Angehörige aussperren, aber dann die überlasteten Pfleger nicht angemessen davor schützen, das Virus weiterzugeben? Ein Standpunkt.

Köln – Es heißt zurecht: Journalisten sollen sich nicht mit einer Sache gemein machen. Aber manchmal müssen sie es, weil, weil das Leben sie mit einer Sache oder in diesem Fall mit geliebten Menschen gemein macht. Alles, was derzeit zum Weg aus dem Lockdown diskutiert und auch umgesetzt wird: Ich kann es nur aus der Perspektive meines hochbetagten, schwerkranken Vaters wahrnehmen.

Er liegt am Niederrhein in einem Pflegeheim. Seit Monaten schaut er dort abwechselnd die Decke oder den Fernseh-Bildschirm an. Meine Mutter, mit der er fast 60 Jahre verheiratet ist, hat er seit mehr vier Wochen nicht mehr gesehen. Und könnte er sie sehen, würde er erschrecken: Sie, die eigentlich mal die Starke in diesem symbiotischen System zweier Menschen war, ist diesem einen Monat in sich zusammengefallen.

Gealtert im Corona-Zeitraffer

Sie verharrt im Bett oder im abgedunkelten Haus. Selbst die Frühlingssonne vermag sie nicht zu locken. Sie geht gebeugt, ihr Gang ist unsicher geworden, gealtert im Corona-Zeitraffer. Diese beiden Menschen klammern sich an eine einzige Hoffnung: die Hoffnung, einander wieder begegnen zu können. Sterben an Einsamkeit oder Sterben an Corona? Sie würden vielleicht Letzteres wählen.

Sie hatten gehofft, die Lockerungsdebatte könnte auch für sie einen Hoffnungsschimmer bringen, für den es sich lohnt, auf dieser unweigerlich letzten Wegstrecke noch ein wenig emotional durchzuhalten. Einmal die Woche eine Stunde Begegnung, mit Maske und Abstand – schon das wäre ein Segen. Stattdessen hörten sie Ausführungen über Ladenöffnungen, die Debatte über Schulöffnungen, wann oder für wen, Sommerurlaub ja oder nein. Kein Wort zu ihnen, zu ihrer existenziellen Situation, die für sie gegen ihre Menschenwürde verstößt.

Ist das der Weg, die Hochbetagten bestmöglich zu schützen? Nein, das ist er nicht, und der Blick in den Alltag der Pflegeheime macht einen als Angehörigen ohnmächtig und wütend.

Denn das System, das engste Angehörige auf nicht absehbare Zeit aussperrt und hilflose Menschen sich selbst und ihrer inneren Einsamkeit überlässt, dieses System tut gleichzeitig wenig bis gar nichts dafür, die ungleich größere Ansteckungsgefahr anzugehen und die im engen Körperkontakt mit den Heimbewohnern arbeitenden Pflegerinnen und Pfleger angemessen zu schützen.

Debatte über den angemessen ethischen Umgang

Keiner von ihnen weiß sicher, ob er selbst infiziert ist. Die Heimmitarbeiter, die wegen des Personalmangels über alle Stationen und Wohnbereiche hinweg eingesetzt werden, gehen abends nach Hause zu ihren Familien. In denen hat sich vielleicht einer im Bus oder beim Einkaufen angesteckt.

Wer weiß das schon sicher? Sicher ist nur, dass die Pfleger am nächsten Tag im Heim wieder im engen körperlichen Kontakt mit den Hochbetagten sind. Viele von ihnen nur mit einfachem OP-Schutz für Mund und Nase ausgestattet, nicht mit den professionellen FFP2-Masken.

Regelmäßige wöchentliche oder zumindest 14-tägliche Tests des Personals? Fehlanzeige. Nicht einmal Gegenstand der Debatte. Selbst als der erste Corona-Verdachtsfall im Heim meines Vaters da war, musste der Leiter zwei Tage mit Behörden kämpfen, um für sein Personal einen Test zu erwirken. Wer nicht alles tut, um die Hauptgefahr für das Leben von Menschen zu eliminieren, der sollte ihnen nicht auch noch das nehmen, was sie am Leben erhält: die Zuwendung ihrer Liebsten.

Über Besuchsregelungen hinaus bräuchte es zwingend die Debatte über den angemessen ethischen Umgang mit den Alten – vor allem dann, wenn sie tatsächlich an Covid-19 erkrankt sind. Es bräuchte dringend mehr Ehrlichkeit, wie sie der Palliativmediziner Matthias Thöns kürzlich im „Deutschlandfunk“ angemahnt hat. Wir haben in Deutschland die Intensivkapazitäten hochgefahren, um möglichst viele Menschen beatmen zu können.

Das könnte Sie auch interessieren:

Aber es sind vor allem die vorerkrankten Hochbetagten, die nach einer Corona-Diagnose auf den Intensivstationen landen. Was sie erwartet, wenn man sie in ein Krankenhaus bringt, das bespricht man mit ihnen nicht und müsste es doch dringend tun: Jeder zweite Corona-Patient überlebt den fünften Tag auf der Intensivstation nicht. Studien aus China zufolge starben dort von den Hochbetagten auf der Intensivstation 97 Prozent trotz Maximaltherapie. Und wenn sie sterben, dann sterben sie allein – ohne dass ein Angehöriger ihre Hand hält.

Menschen, die sonst als hochbetagte Vorerkrankte eher Palliativpatienten wären, werden plötzlich Intensivpatienten. Eine ehrliche Willensermittlung findet nicht statt. Im Gegenteil: Thöns wies sogar auf die Gefahr hin, dass in den Krankenhäusern angesichts aufgeschobener Operationen und noch nicht ausgelasteter Intensivstationen ein eigener wirtschaftlicher Druck entstehen könnte, Hochbetagte intensivmedizinisch zu betreuen.

Statt die Zahl von Intensivbetten weiter auszubauen und Heime kompromisslos abzuriegeln, bräuchte es etwas anderes: das ehrliche Gespräch mit den Hochbetagten, ob sie das im Fall von Covid-19 wirklich wollen: schweres Leiden bei minimaler Rettungschance. Hier bräuchte es auch öffentliche Aufklärung darüber, dass Palliativmedizin die so gefürchtete Atemnot wirksam lindern kann. Keiner brauche zu ersticken, betont Thöns. Es bräuchte einen massiven Ausbau der auf Covid-19 ausgerichteten Palliativbetreuung, um ein Sterben in Würde zu ermöglichen: begleitet daheim oder auf einer palliativen Corona-Station. Zumal dort auch das Besuchsverbot aufgehoben wird, wenn ein Covid-19-Patient im Sterben liegt.

KStA abonnieren