Überlebender Viktor Staudt„Über Suizidgedanken zu sprechen, muss ganz normal werden”

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Viktor Staudt hat ein Buch mit dem Titel «Die Geschichte meines Selbstmords und wie ich das Leben wiederfand» geschrieben, nachdem er einen Suizidversuch überlebt hatte.

  • Die Zahl derer, die Selbstmord begehen, ist seit Jahren konstant hoch. Doch nicht nur für die Angehörigen sind Suizide tragisch, sondern auch zum Beispiel für Lokführer, die durch Suizide traumatisiert und nicht selten berufsunfähig werden.
  • Viktor Staudt, Jurist und Buchautor, hat seinen Suizidversuch vor Jahren überlebt. Er verlor dabei beide Beine.
  • Er ist überzeugt davon, dass die Suizid-Zahlen gesenkt werden könnten – und setzt sich unermüdlich dafür ein.
  • Ein Gespräch.

Herr Staudt, in Deutschland begehen Jahr für Jahr rund 10.000 Menschen Suizid, etwa 700 bis 800 werfen sich vor einen Zug. Die Zahlen sind seit Langem ungefähr konstant. Kann man sie senken?

Ich bin überzeugt davon, dass Suizidprävention etwas bewirken kann, ja. Das zeigen auch die Beispiele aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Italien, wo die Quoten deutlich niedriger sind. Das Schlimme an dem Suizid auf den Schienen ist, dass jemand Unbeteiligtes mit hineingezogen wird: der Lokführer. Aber daran denkt man in diesem Moment nicht. Könnte man es, wäre man in der Lage dazu, würde man diesen Schritt wahrscheinlich gar nicht gehen. Die Leute halten diese Methode für besonders sicher. Aber das stimmt nicht unbedingt, wie man an meinem Beispiel sieht.

Sie haben sich 1999, im Alter von 30, in Ihrer Heimat, den Niederlanden, vor einen Zug geworfen. Sie haben beide Beine verloren, aber überlebt. Heute sprechen Sie auf Lesungen und Kongressen über Ihre Erfahrungen und die Prävention von Suiziden. Was hätte Sie damals von Ihrem Schritt abhalten können?

Die Möglichkeit, über meine Probleme und Gedanken offen reden zu können. Wirklich gebessert hat sich meine Situation erst 2005, als ich endlich eine Ärztin traf, die die richtige Diagnose stellte und mir ein wirksames Antidepressivum verschrieb. Aber damals hätte es mir sicher schon geholfen, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, meine Einsamkeit und Verzweiflung und auch meine Suizidgedanken mitteilen zu können. Das ist aber noch immer ein großes Tabuthema.

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Seit einigen Jahren schon scheint sich in Deutschland etwas zu verändern. Die Menschen suchen sich bei psychischen Problemen häufiger Hilfe, gehen zum Arzt oder Psychologen, auch Prominente schildern öffentlich Depressionen. Ist es wirklich immer noch so schwer, über psychische Probleme zu sprechen?

Es verändert sich etwas. Das merke ich stark an meinen Lesungen. Vor einigen Jahren noch verloren sich da zehn oder 15 Menschen. Inzwischen sind die Säle voll, ich bekomme unablässig Anfragen und zahlreiche Mails. Was meine Leser und Zuhörer berichten, hat sich aber kaum verändert: Es handelt von der Schwierigkeit, passende Therapeuten zu finden, von Einsamkeit und Verzweiflung und dem Gefühl, darüber nicht sprechen zu können. Es muss so normal werden, über Suizidgedanken zu sprechen, wie über eine Erkältung. Das darf kein Tabu mehr sein.

Das Sprechen und Berichten über Suizide kann aber auch Nachahmer provozieren. Man kennt das als Werther-Effekt. Was halten Sie dem entgegen?

Den Papageno-Effekt. Der besagt, dass ein bestimmtes Reden und Berichten Suizide verhindern kann. Der Effekt ist wissenschaftlich belegt. Der Fokus muss auf der Problemlösung liegen, auf der Überwindung, nicht auf der vermeintlichen Ausweglosigkeit einer Situation. Ich möchte mit meiner Geschichte eine positive Identifikationsfigur bieten. Ich möchte zeigen, dass und wie man aus so einer Situation herauskommt. Ich sitze im Rollstuhl, aber ich genieße längst wieder das Leben.

Das Gespräch führte Thorsten Fuchs

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