„Tickende Zeitbomben”Wie Kölner Zivilfahnder notorische Sexualstraftäter überführen

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Gefängnis (1)

Symbolbild

  • Aus der Haft entlassene notorische Straftäter sind eine der schwersten Herausforderungen für die Kölner Polizei.
  • In Köln leben derzeit zwölf Männer der A-Kategorie: Das bedeutet höchste Rückfallgefahr. Die Polizei spricht von „tickenden Zeitbomben”.
  • Wie gehen die Zivilfahnder bei ihren Observationen vor? Eine beispielhafte Geschichte aus unserem Archiv.
  • Teil 13 unserer neuen Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“ Eine Geschichte aus unserem Archiv.

Köln – Sie observieren Schwerkriminelle, Islamisten und rückfallgefährdete Sexualstraftäter. Nur selten gibt die Polizei einen Einblick in die schwierige Arbeit ihrer Zivilfahnder. Die speziell geschulten Beamten arbeiten im Verborgenen. Mithilfe der Kölner Kripo und dem Landeskriminalamt (LKA) rekonstruiert der „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Geschichte einer aufwendigen Observation. -> Hier alle Folgen der Serie lesen!

„Ein schwerster Sexualstraftäter. Gemeingefährlich. Ein Hangtäter, der sich immer wieder zu jungen Mädchen hingezogen fühlt.” So beschreibt ein Richter den arbeitslosen Kölner Handwerker Andreas Kaufmann (Name geändert) vor einigen Jahren im Prozess wegen sexuellen Missbrauchs. Über Monate hatte der Angeklagte zwei jugendliche Schülerinnen vergewaltigt. In einem Park, in einer Wohnung. Seine Opfer fand er in Internetchatrooms. Das Urteil: neun Jahre Haft. Kaufmann kommt keinen Tag früher frei. Nach seiner Entlassung wird er in Sicherungsverwahrung genommen, die erst einmal zur Bewährung ausgesetzt ist. Kaufmann ist jetzt über 50. Polizei, Staatsanwaltschaft und Bewährungshilfe werden über seine Freilassung informiert. Heute sagt Kriminalhauptkommissar Martin Hövelkamp: „Wir hatten von Anfang an kein gutes Gefühl.“

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Sexualstraftäter, die ihre volle Haftzeit verbüßt haben, werden in NRW seit 2010 in das Programm „Kurs“ aufgenommen. Die Abkürzung steht für „Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern“. In enger Abstimmung kümmern sich Sozialarbeiter und Polizisten um den entlassenen Häftling. Sie sollen verhindern, dass er erneut straffällig wird. 

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Etwas mehr als 1000 Menschen, ausschließlich Männer, sind landesweit im „Kurs“-Programm registriert. Die Polizei unterteilt sie in drei Risikogruppen: A steht für „höchste Rückfallgefahr“. In Köln leben zurzeit ungefähr zwölf A-Probanden sowie einige Dutzend Männer der Kategorien B und C.

Vor allem die engmaschige Kontrolle der A-Probanden ist mitunter kompliziert und ungemein personalintensiv, sagt Kripo-Chef Stephan Becker. „Wir haben es teilweise mit hochintelligenten Tätern zu tun, die uns Theater vorspielen. In Wahrheit sind das zum Teil tickende Zeitbomben.“ Aber genau das, sagt Becker, sei der Kern von „Kurs“: die richtig Gefährlichen zu identifizieren und unter Kontrolle zu halten. Die einschneidendste und zugleich aufwendigste Maßnahme ist eine dauerhafte Observation. Sie stellt einen massiven Eingriff in den intimsten Lebensbereich dar. Zulässig ist sie daher nur, wenn „Leib, Leben oder Freiheit“ anderer Menschen in Gefahr sind oder wenn zu befürchten ist, dass der Verdächtige auch weiterhin „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ begehen wird. So steht es im Landespolizeigesetz.

Als Andreas Kaufmann auf Bewährung frei kommt, geben Justiz und Polizei ihm Weisungen mit auf den Weg, Auflagen also, wie er sich zu verhalten hat. Jeder eindeutige Verstoß könnte ihn zurück ins Gefängnis bringen. Kaufmann darf sich Kindern nicht zielgerichtet nähern, muss Spielplätze und Schwimmbäder meiden, darf das Internet nur nach Absprache mit seiner Bewährungshelferin nutzen. Doch schon in den ersten Tagen legt er sich einen Laptop zu, kauft sich einen Internet-Stick, wie die Polizei eher zufällig erfährt. Die Beamten beschließen, Kaufmann nicht mehr aus den Augen zu lassen.

Eine so genannte „24/7“-Observation, also 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche, ist für jede Polizeibehörde ein personeller Kraftakt. „Das läuft nicht so wie im Fernsehen, wo zwei Zivilbeamte einfach irgendwem hinterherfahren“, sagt Kripochef Becker. „Das ist albern.“ Um Observationen kümmert sich bei der Polizei Köln eine eigene Dienststelle. Die Beamten sind speziell geschult. Sie heften sich islamistischen Gefährdern an die Fersen, Einbrechern, Betrügern – oder rückfallgefährdeten Sexualstraftätern. Die Zahl der besonders aufwendigen „24/7“-Beobachtungen liege pro Jahr im einstelligen Bereich, sagt Becker. Mit jedem Einzelfall sind Dutzende Beamte beschäftigt, und das meist über Wochen. „Wir wollen sehen: Wie verhält derjenige sich, wenn er sich unbeobachtet fühlt“, erklärt Hauptkommissar Martin Hövelkamp. „Dazu müssen wir immer wieder neue Kollegen an ihn ranspielen, Gesichter, die er noch nicht kennt.“

Die Beamten arbeiten in drei Schichten. Mehrere Teams verfolgen den Verdächtigen, manchmal setzen sie dazu auch Videotechnik ein. Kollegen begleiten und koordinieren den Einsatz aus dem Büro, andere werten später die Videobänder aus und dokumentieren jeden einzelnen Schritt. „Die Kollegen arbeiten sehr sorgfältig, sie betreiben einen beachtlichen Aufwand“, sagt Becker.

Andreas Kaufmann ahnt nicht, dass er verfolgt wird. An einem Tag betritt er eine Straßenbahn und setzt sich direkt neben ein junges Mädchen – obwohl fast alle Plätze frei sind. Kaufmann lächelt das Kind an. Was ist davon zu halten? „Für uns ist das immer eine Gratwanderung“, sagt Hövelkamp. Die Ermittler entscheiden, nicht einzugreifen und Kaufmann vorerst weiter zu beobachten, damit die Observation nicht aufkippt. Sie informieren aber die Führungsaufsicht und schreiben eine Anzeige wegen eines Verstoßes gegen die Weisungen.

An einem anderen Tag sind die Zivilpolizisten dabei, als Kaufmann das Foyer eines Kölner Schwimmbades betritt und durch eine Glasscheibe die spielenden Kinder beobachtet. Wieder dokumentieren die Beamten einen Weisungsverstoß. In der Summe können später auch viele kleine Verstöße die Bewährung widerrufen. Es braucht nicht erst einen tatsächlichen Übergriff.

Rechnet ein Täter damit, dass die Polizei ihn überwacht, wird die Arbeit für die Ermittler noch komplizierter. „Manche verhalten sich permanent so, als wenn sie beobachtet würden. Die legen die merkwürdigsten Wege zurück, um potenzielle Observanten abzuschütteln“, weiß Becker. Gunnar Thon, „Kurs“-Leiter im LKA, nennt ein einfaches Beispiel: „Jemand verlässt sein Haus, setzt sich aufs Fahrrad, fährt 50 Meter die Straße runter, dreht um und fährt zurück. Und das macht der achtmal hintereinander. Was tun Sie da als Observant?“ Ja, was? Ihre Tricks wollen die Ermittler nicht verraten. Nur so viel: „Dafür brauchen Sie dann richtig gute Leute.“

An einem Samstag zieht es Andreas Kaufmann erneut zu einem Schwimmbad. Diesmal zahlt er und tritt ein. Die Ermittler reagieren blitzschnell: Einer kauft sich im Kaufhaus um die Ecke eine Badehose und eilt hinterher. Der Beamte beobachtet, wie Kaufmann am engen Zugang zum Strömungskanal immer wieder Kindern sehr nahe kommt. Manche taucht er mit seiner Chlorbrille an. Auch diesmal kommt es nicht zu einem Übergriff – aber für Polizei, Staatsanwaltschaft und Führungsaufsicht steht jetzt zweifelsfrei fest: Kaufmann ist offenbar nicht geläutert. Er verstößt immer wieder gegen die Auflagen, begibt sich bewusst in genau jene Situationen, die er eigentlich meiden soll.

Ein paar Monate nach seiner Entlassung erlässt die Strafvollstreckungskammer einen so genannten Sicherungshaftbefehl gegen den Sexualstraftäter: Andreas Kaufmann muss wieder hinter Gitter. Auf unbestimmte Zeit. Dort sitzt er bis heute.  

1065 Sexualtäter im Visier

In NRW hat die Polizei derzeit 1065 verurteilte Sexualstraftäter im Visier – Männer, die aus der Haft entlassen wurden und bei denen die hohe Gefahr besteht, dass sie rückfällig werden. Viele haben im Gefängnis eine Therapie verweigert. Vor ihrer Entlassung werden sie automatisch in ein Programm aufgenommen, das das Innenministerium „Kurs“ getauft hat – Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern. Knapp 3300 Männer haben seit 2010 daran teilgenommen. Die Rückfallquote liegt laut Landeskriminalamt (LKA) bei drei bis fünf Prozent. Üblich seien 19 bis 25 Prozent. Vor oder kurz nach der Haftentlassung besprechen Justizbeamte, Bewährungshelfer, Sozialarbeiter, die örtliche Polizei und das LKA in einer Fallkonferenz, wie sie den betreffenden Häftling in der Freiheit unter Kontrolle halten können. Federführend ist die so genannte Führungsaufsicht, eine eigene Dienststelle im Justizapparat. Sie erteilt dem „Kurs“-Probanden in Absprache mit der Strafvollstreckungskammer konkrete Weisungen – zum Beispiel Betretungsverbote von Spielplätzen und Schwimmbädern oder Kontaktverbote zu Kindern.

Ein Verstoß gegen eine Weisung ist eine Straftat. Jeder einzelne oder auch die Summe kleinerer Verstöße kann dazu führen, dass der Proband wieder ins Gefängnis muss. Die schärfste Form der Kontrolle ist eine Rund-um-die-Uhr-Beschattung durch die Polizei. (ts)

Die Geschichte ist im September 2018 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen.

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