Tatortreiniger erzählt„Die gesellschaftliche Ignoranz erschreckt mich immer wieder“

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Tatortreiniger Giesenkirchen

Karl-Heinz Giesenkirchen reinigt Leichenfundorte „von ganzem Herzen gern“.

  • Ein blutiger Unfall in der Gastronomie brachte Karl-Heinz Geisenkirchen vor 20 Jahren zum Beruf des Tatortreinigers.
  • Bis heute reinigt er Leichenfundorte „von ganzem Herzen gern“, wie er sagt. Ekel hat er auszublenden gelernt.
  • Trotzdem kommt er immer wieder an seine Grenzen. Zum Beispiel beim beißenden Leichengeruch.
  • Teil 4 unserer Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“ Aus dem Archiv.

Karl-Heinz Giesenkirchen („Cleaner-Kalle“) ist professioneller Tatortreiniger – oder korrekt: Leichenfundortaufbereiter. Giesenkirchen ist Leitender Angestellter einer Gebäudereinigungsfirma in Ehrenfeld und reinigt bis heute Leichenfundorte „von ganzem Herzen gern“. Warum nur? Wie poliert man eine verdreckte Messie-Wohnung auf Hochglanz? Spürt er Ekel? Und wie nahe gehen ihm die Schicksale der Verstorbenen? All das verrät Karl-Heinz Giesenkirchen im Interview. -> Hier alle Folgen der Serie lesen! Ihren Beruf kennen wahrscheinlich viele aus dem Fernsehen – aus der ARD-Serie „Tatortreiniger“ mit Bjarne Mädel als „Schotty“. Kennen Sie? Ja, auf die Serie werde ich oft angesprochen. Lange kannte ich die nicht, ich habe sie mir dann mal angesehen und muss sagen: Ich finde die in höchstem Maße interessant und witzig. Aber vollkommen realitätsfern. Der trägt ja nicht mal ausreichende Schutzkleidung. Was mir an diesem Schotty aber gefällt, ist, dass er manchmal mit den Geistern spricht. Das mache ich auch. 

Das machen Sie auch?

Ja, das hat bei mir den Hintergrund, dass ich jeden Menschen und auch die Verstorbenen respektiere. Man sollte in meinem Beruf pietätvoll sein. Ich bete zwar nicht für die Verstorbenen, aber eine gute Reise kann man ja ruhig wünschen. Manchmal sage ich auch so etwas wie „Es tut mir Leid, dass du so einsam gestorben bist“. Das sind so Sachen… tja, wie soll ich das beschreiben … vielleicht, um die Situation zu entschärfen.

Sie meinen, falls der Verstorbene Sie irgendwie beobachtet?

So in der Art, ja. Ich komme als Fremder in seine Wohnung, ich räume auf und schmeiße persönliche Gegenstände weg. Ich will nicht, dass das irgendwie für schlechte Energie sorgt.

Wann werden Sie zu einem Tatort gerufen? Wer beauftragt Sie?

Meistens kommen erst der Hausmeister oder ein Angehöriger, die die Leiche finden. Die rufen die Kripo, dann kommen Notarzt oder Sanitäter, der Bestatter, und als Letzter komme ich. Beauftragt werde ich in der Regel vom Eigentümer oder Verwalter. Ich darf erst in das Objekt, wenn die Polizei es freigegeben hat. Tatort hört sich übrigens immer so dramatisch an. Streng genommen ist es ein Leichenfundort. Es steckt ja nicht immer ein Verbrechen dahinter.

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Ein Zufall brachte Karl-Heinz Giesenkirchen zum Beruf des Tatortreinigers - oder korrekt: Leichenfundortaufbereiters.

Was sind das für Wohnungen, in die Sie da kommen?

Häufig stark verschmutzte und kontaminierte Wohnungen, oft Messie-Wohnungen. Manchmal lag der Tote mehrere Tage oder Wochen unbemerkt da. Das ist etwas, was nach meiner Einschätzung leider zunimmt. Ich war sogar mal in einem Altenwohnheim, wo eine Bewohnerin neun Wochen tot in ihrem Zimmer lag, ehe sie gefunden wurde.

Nicht mal das Personal hatte die Frau vermisst?

Die Bewohnerin hatte keine Dauerbetreuung, sondern nur so etwas wie eine Betreuung auf Zuruf. Ich stehe dann da in meinem weißen Schutzanzug, mit den Chemikalien und den ganzen Gerätschaften, als sich ein paar alte Damen dazugesellen. Die waren neugierig, wollten wissen, ob ich von der Feuerwehr bin. Da habe ich erstmal meinen Mundschutz abgenommen und gesagt: „Meine Damen, ich habe mal eine Frage: Wie kann es sein, dass Ihre Nachbarin neun Wochen hier liegt und Sie das nicht bemerken? Ihr seid doch eine soziale Gemeinschaft!“

Und?

Ich bekam keine Antwort. Diese gesellschaftliche Ignoranz finde ich sehr traurig, das erschreckt mich immer wieder.

Wie sind Sie zu diesem Job gekommen?

Ich bin gelernter Hauswirtschaftsmeister und habe zudem auch lange in der Gastronomie Lehrlinge ausgebildet. In einer Küche hatten wir eine große Maschine, in der Kartoffeln und Gemüse zu Scheiben verarbeitet werden, einen Cutter. Das ist jetzt 20 Jahre her. Ich sagte noch zu meinen Mitarbeitern: Wenn was klemmt, steckt nicht die Finger rein. Ich hatte es kaum ausgesprochen, da war es schon passiert. Eine Küchenhilfe fasste da rein, das Blut spritzte überall herum. Sie hat das überlebt, aber die Finger waren ab.

Und irgendjemand musste am Ende sauber machen.

Nachdem der Rettungswagen weg war, war das genau das erste, was ich dachte: Wie kriegst du das jetzt alles wieder weg? Ich habe verschiedene Methoden angewendet und angefangen, darüber zu lesen und das zu erlernen. Dabei bin auf Dokus aus Amerika gestoßen, wo Tatortreiniger ein verbreiteter, gut bezahlter Beruf ist. Und dann habe ich mich ausbilden lassen. Ich bin jetzt seit vielen Jahren zertifiziert und besuche regelmäßige Fortbildungen in ganz Deutschland. Ich habe auch noch eine spezielle Hygieneausbildung.

Was lernt man in dieser Ausbildung?

Es geht nicht nur darum, wie ich etwas reinige, sondern auch, wie ich fachgerecht desinfiziere. Es nutzt ja nichts, wenn ich da nur mit einem Läppchen drüber gehe, aber die Ursache nicht entfernt habe. Sehen Sie, wenn ich meine Hand hier auf den Tisch presse, haben wir da eine Million Keime. Nach fünf Stunden ist der ganze Tisch voll davon, das liegt an der exponentiellen Vermehrungsrate. Wenn ich Desinfektionsmittel draufsprühe und nur ein einziges Prozent übrig bleibt, wird sich das aber wieder exponentiell vermehren. Das sind so Sachen, die muss man wissen und vor allem fachgerecht anwenden. Nur Desinfektionsmittel großzügig verteilen ist nicht zielführend.

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Den Geruch, sagt Giesenkirchen, habe er gespeichert.  Manchmal steige er ganz plötzlich in die Nase, nachts zum Beispiel.

Wie macht man es denn richtig?

Man muss vollflächig desinfizieren, zum Beispiel mit Scheuer-Wisch-Methoden. Wenn nur ein bisschen was übrig bleibt, war alles umsonst. Klar, ich benutze auch schon mal einen Sprüher, aber nur für Ecken, wo ich nicht anders drankomme. Dann weiß ich aber auch genau, wohin und wie viel ich sprühen muss. Außerdem habe ich bestimmte Geräte, Ozongeräte, die den ganzen Raum ozonisieren, also mit einem zusätzlichen Sauerstoffatom anreichern. Das können biologische Organismen nicht vertragen, die sterben dann. Das ist sehr effektiv. Eine andere Sache ist: Wie entwese ich eine Wohnung?

Und wie?

Ich hatte mal einen versuchten Mord. Ein Zimmer in der Wohnung war komplett mit Blut eingefärbt. Der Vermieter war der Meinung, ich müsse dann ja nur dieses eine Zimmer reinigen. Aber es gab Fliegen darin. Fliegen sind mit die größten Infektionsüberträger. Wenn eine Fliege auf einer Leiche sitzt, heften sich pathogene Keime an ihren Rüssel, an die Beinchen, überall. Und wenn sie sich an die Wand setzt oder auf die Küchenanrichte, verteilt sie die Keime auch dort. Da reicht es dann eben nicht, nur ein Zimmer zu reinigen, man muss die komplette Wohnung reinigen.

Was ist der schlimmste Teil Ihrer Arbeit?

Das Befüllen der Biotonnen.

Was ist das?

Spezielle, registrierte Behälter, die anschließend versiegelt und verbrannt werden.

Und womit befüllen Sie die?

Die Leichen, also die Knochen und die Haut eines Verstorbenen, sind zwar weg, wenn ich komme. Aber der Mensch besteht ja zu 60 bis 70 Prozent aus Körperflüssigkeiten, und die ziehen in Möbel, Böden, teilweise bis in den Estrich ein, vor allem, wenn die Leiche lange in der Sonne gelegen hat und der Fäulnis- und Verwesungsprozess weit fortgeschritten ist. Das muss ich erstmal alles entfernen. Wegspachteln, reinigen und in die Biotonne füllen. Manchmal muss ich schon kurz schlucken. Aber das ist eben mein Beruf.

Spüren Sie keinen Ekel?

Nein. Ich sehe in erster Linie nicht die menschlichen Überreste, sondern die Verschmutzung als solche und dann frage ich mich eben: Wie kriege ich das weg, welche Mittel und Werkzeuge kommen zum Einsatz? Zwischendurch schaue ich mir auch Fotos an, die in der Wohnung hängen, man hat ja stets Persönliches um sich herum. Man sieht die Kinder, die Enkelchen. Man malt sich aus, was hier in der Wohnung in den letzten Minuten vor dem Tod passiert sein muss. Das stimmt mich oft nachdenklich und traurig. Aber die Reinigung als solche mache ich völlig emotionslos.

Wie ertragen Sie zum Beispiel den beißenden Leichengeruch?

Ich arbeite mit Atemschutzmaske. Manchmal mache ich mir da einen Teebeutel rein, um den Geruch etwas zu entschärfen. Kamille, Pfefferminz, Früchtetee – egal. Was ich halt gerade im Köfferchen habe.

Werden Sie den Geruch sofort wieder los, sobald Sie eine Wohnung verlassen haben?

Nein, den habe ich gespeichert. Der ist jederzeit abrufbar. Anfangs hatte ich große Probleme damit. Manchmal stieg der Geruch ganz plötzlich in die Nase, nachts zum Beispiel. Erst dachte ich, ich bilde mir das ein. Aber ein befreundeter Biologe hat mir dann erklärt: Das ist ganz normal, das sind Geruchsmoleküle, die setzen sich überall ab, trotz Schutzmaske. Die kriegen Sie kaum weggewaschen, auch nicht mit antiseptischer Seife. Ein paar bleiben immer hängen. Und ab und zu platzen die eben. Dann kommt halt zwischendurch immer mal wieder so ein Düftchen.

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Gab es Einsätze, die Sie emotional stark belastet haben?

Bisher Gott sei Dank nicht. Aber ich bete, dass ich nie mit einem Kindsmord zu tun haben werde. So eine Tat ist eine Überschreitung aller menschlichen Grundsätze. Ein Kollege hatte mal einen solchen Fall. Abdrücke von Kinderfüßen in einer Blutlache. Furchtbar.

Würden Sie so einen Auftrag ablehnen?

Nein, niemals, das geht gegen die Berufsehre. Tatortreinigung ist für mich eigentlich auch mehr als ein Beruf, es ist eine Berufung. Ich mache das sehr gut – und von ganzem Herzen gern.

Ich glaube, das müssen Sie jetzt ein bisschen erklären.

Sie müssen sich das so vorstellen: Sie kommen in einen Raum, der völlig niedergestreckt ist. Alles, was Sie sich an widerlichen Dingen vorstellen können, ist vorhanden. Und dann fange ich an zu reinigen. Am Ende, manchmal erst nach einer Woche, glänzt alles wieder, es ist wie neu, das ist ein unbeschreibliches Erfolgserlebnis. Und dann kommt der Auftraggeber, der ja noch diese völlig desolate Wohnung im Kopf hat, und sagt: Meine Güte, wie haben Sie das hinbekommen? Das ist der Applaus für mich. Eine absolute Befriedigung.

Ihre private Wohnung stelle ich mir ziemlich reinlich vor. Stimmt das?

Es ist schon sehr sauber und gemütlich bei uns, das stimmt. Aber nicht steril und keimfrei. Ich lege Wert darauf, dass zu Hause so wenig Desinfektionsmittel verwendet wird wie möglich. Der Körper muss schließlich eigene natürliche Abwehrkräfte bilden. Ich habe fünf Kinder, die beiden jüngsten sind Zwillinge, vier Jahre alt. Wir wohnen in einem Dörfchen, und den Kleinen sage ich immer: Geht raus, schmeißt euch in den Dreck, wirbelt rum, alles gut. Zu Hause kommen die Klamotten in die Maschine – und fertig.

Hat Ihr Beruf Ihre Einstellung zum Tod verändert?

Ja. Ich sehe viele Dinge nüchterner. Irgendwann trifft es jeden. Man weiß halt nur nicht wie und wann. Hauptsache, nicht einsam.

Das Gespräch führte Tim Stinauer 

Dieser Artikel ist im Mai 2020 zuerst erschienen.

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