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Interview über Egoismus in der Corona-Krise„Wer solidarisch handelt, ist der Depp“

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Das Klatschen auf Balkonen für Pflegepersonal? Egoismus pur, sagt Autor Erik Flügge.

Der Kölner Autor und Politikberater Erik Flügge (34) hat in diesem Jahr ein Buch über Egoismus geschrieben und bewertet in einem ausführlichen Interview die Corona-Krise aus ebenjener Perspektive. Dem viel beschworenen Zusammenhalt stellt er ein „Armutszeugnis“ aus. Er hat eine dezidierte Meinung zur versuchten „Rettung“ des Weihnachtsfestes, der Glühwein-Debatte und dem Böllerverbot an Silvester. Ein Gespräch über das zunehmend unsolidarische Verhalten in Pandemiezeiten, den Strategiewechsel der Bundesregierung in Richtung Egoismus und politische Fehler. 

Wie bewerten Sie das Corona-Jahr 2020: Hat der viel beschworene Zusammenhalt überwogen – oder der Egoismus? Erik Flügge: Alle politischen Maßnahmen dieses Jahres basieren auf dem Prinzip des Zusammenhalts und der Solidarität. Viele haben mitgemacht, und das ist ein gutes Zeichen. Allerdings ist man in Deutschland gewohnt, sich an Regeln zu halten. Wir bleiben ja auch verblüffend oft bei Rot stehen. Daraus ergibt sich noch lange kein Zusammenhalt. Und leider erleben wir ja auch, wie unheimlich stark die Fliehkräfte sind. Viele haben eben nicht eingesehen, warum irgendeine Änderung in ihrem Leben notwendig ist. Und wir haben harte Thesen erlebt: Da wurde gefordert, die Alten zu isolieren, damit wir unser Leben normal weiterleben können. Da wurde gesagt: Die Alten haben doch eh nicht mehr lange zu leben. Es war also Jahr des grassierenden Egoismus und damit kein gutes für unsere Gesellschaft. 

Welche Corona-Debatte vor den Feiertagen hat Sie am meisten geärgert?

Geärgert hat mich, dass das Retten von Menschenleben argumentativ durch das Retten von Weihnachten ersetzt worden ist. Hieß es im Frühjahr noch sachlich korrekt, wir müssten alle zuhause bleiben, um Menschenleben zu retten, hieß es zuletzt: Wenn ihr euch ein bisschen Mühe gebt, könnt ihr Weihnachten so feiern wie immer. Nun ist die Kanzlerin nicht dumm und weiß, dass es um Menschenleben geht. Aber offenbar hat der gelebte Egoismus in diesem Jahr dafür gesorgt, dass sie nicht mehr mit Menschenleben argumentierte, sondern ihr der Appell an den Egoismus als klügere Kommunikations-Strategie erschien. Was für ein Armutszeugnis für unseren Zusammenhalt.

Silvester soll nicht geböllert werden. Auch das sehen nicht alle ein.

Viele Leute halten diese Maßnahme für bescheuert. Daran sind zwei Dinge problematisch: Erstens denken zu viele Leute, der Bund wolle sie ja nur gängeln – als ob die Kanzlerin nichts Besseres zu tun hätte - und die darum gar nicht recherchieren, dass diese Maßnahme vor allem dazu gedacht ist, die Krankenhäuser zu entlasten, die jedes Jahr an Silvester Menschen mit schweren Verbrennungen behandeln müssen. Zweitens schafft es der Bund offenbar nicht mehr, seine Maßnahmen zu erklären. Deshalb fährt man ganz egoistisch jetzt schnell noch über die Grenze nach Osteuropa, um dort Böller zu kaufen, die zum Teil noch viel gefährlicher sind.

Auch vor Corona wurde schon geklagt über die Zunahme des Egoismus in der Gesellschaft. Trifft das zu?

Das ist absolut so. In großen Studien dazu hat die überwältigende Mehrheit der Befragten das Gefühl geäußert, dass immer mehr egoistisch gehandelt wird. Solche Ergebnisse hätte man nicht, wenn es nur um ein paar blöde Egoisten ginge. Und natürlich spüren wir alle selbst, dass wir dem Egoismus nicht entkommen. Weil wir auf die eigene Karriere schauen müssen, die rare Mietwohnung am Ende selbst haben wollen. Das ist normal in der Gesellschaftsordnung, in der wir leben. 

Wir haben es mit dem Lockdown Light nicht geschafft, die Infektionszahlen runterzukriegen. Im Gegenteil. Haben also zu viele von uns zu egoistisch gehandelt in den vergangenen Monaten?

Definitiv. Das können wir nicht schönreden. Nun sind wir alle seit Jahrzehnten aber auch darin geübt, uns im Wesentlichen um uns selbst zu kümmern. Wir haben immer mehr Institutionen des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft abgebaut. Das einfachste Beispiel ist die Rente. Wer jungen Leuten ständig sagt, dass die Rente für sie später nicht mehr reichen wird, fördert definitiv kein Bewusstsein für ein Miteinander. Wir erleben diese Ökonomisierung in vielen Lebensbereichen. Die ständige Rede vom mündigen Verbraucher anstatt des Setzens anständiger Gemeinwohl-Standards, das verändert uns auch im Alltag. Wir drehen uns gedanklich nur noch um uns selbst – und genau das ist jetzt ein großes Problem in der Krise.

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Welches Beispiel fällt Ihnen ein für einen schweren politischen Fehler in der Krise?

Ich kenne Wirte, die sich im Sommer an alle Regeln gehalten haben. Die sind zu recht frustriert über die Gastronomen, die das nicht gemacht haben und deshalb deutlich mehr Gewinne eingestrichen haben. Derjenige, der solidarisch handelt, ist der Depp. Darum darf man nicht nur Regeln einführen, sondern muss das dann auch im massiven Umfang kontrollieren. Die Realität sah leider so aus, dass die Unsolidarischen einen Vorteil hatten.

In Köln wurde zuletzt viel über unsolidarische Glühwein-Trinker diskutiert. Wie haben Sie die Debatte erlebt?

Wir haben da mit jüngeren Menschen zu tun, die wesentlich weniger von Corona gefährdet sind. Und wenn ich meinem Nachwuchs zwanzig Jahre lang beibringe, nur auf sich selbst zu achten, brauche ich mich über solche Ereignisse nicht zu wundern. Das ist nicht gottgegeben, das könnte man ändern. Dafür braucht es aber politischen Willen.

Jüngere standen auch für WG-Partys in der Kritik. Zu Recht?

Zunächst einmal sind die, die WG-Partys gefeiert haben oder feiern, im wahrsten Sinne asozial. Sie denken andere nicht mit, sondern stattdessen: Ich bin ja nicht Teil der Risikogruppe, wahrscheinlich infiziert sich niemand. Nur passiert das in nicht so wenigen Fällen eben doch. Und das alles sind Bausteine, die dafür sorgen, dass wir uns jetzt im harten Lockdown befinden.

Solche Treffen entspringen aber doch auch dem menschlichen Bedürfnis, sozial zu sein.

Das sehe ich anders. Man kann ja auch in kleineren Gruppen sozial sein. Solche Treffen entspringen vor allem der Idee der eigenen Allmächtigkeit. Ich heirate doch nur einmal im Leben, das können die mir nicht verbieten. Ich werde nur einmal im Leben 30 – und so weiter. An Weihnachten lass ich mir nichts verbieten. In allen diesen Fällen wirkt, dass der Gedanke vom Ich immer stärker gemacht wurde in unserer Gesellschaft. Wir alle sind Teil vom Dauerfeuer der Ich-Erzählung.

Klatschen auf dem Balkon – keine solidarische Geste?

Nein, Egoismus pur. Ist Ihnen aufgefallen, dass niemand mehr geklatscht hat, als der Lockdown im Frühjahr vorbei war? Dabei hatte sich zu dem Zeitpunkt für das Pflegepersonal gar nichts geändert. Worum ging es also wirklich? – Um das eigene Wohlbefinden. Abends für wenigstens fünf Minuten an etwas teilzuhaben, sich nicht so überflüssig zu fühlen. Es war ein Klatschen für sich selbst und nicht für andere. Ich kenne viele Menschen aus dem Gesundheitswesen, die das Klatschen als zynisch und unerträglich empfunden haben.

Wie hätte denn eine gute Alternative ausgesehen – nicht klatschen?

Eine gute Alternative wäre, wenn Menschen daran mitarbeiten würden, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege tastsächlich besser werden. Wenn sie einen Brief an ihre Bundestagsabgeordneten geschrieben hätten. Man hätte ja auch offen benennen können, dass man gerade ein Grundbedürfnis hat, sich in dieser Lockdown-Situation wechselseitig zu bestätigen. Aber muss ich dafür die Illusion aufbauen, es ginge um jemand anderen als mich selbst? Nein!

Die Pflegekräfte haben dann in der Krise erfolgreich für mehr Lohn gestreikt – viele fanden den Zeitpunkt unangemessen.

Es ist gut und richtig, dass für höhere Löhne gestreikt worden ist. Wir hatten jahrelang die Situation, dass das Pflegepersonal den Strategiefehler gemacht hat, an die Moral zu appellieren: Hallo, ihr müsst doch mal sehen, wie wichtig wir sind und das wertschätzen. Was sagen dann die Arbeitgeber? Ja, wir wertschätzen euch und werden uns kümmern – irgendwann. Und dann passiert relativ wenig.

Die Zahl der Impfskeptiker wächst. Ist es egoistisch, sich nicht gegen Corona impfen zu lassen?

Das Prinzip des Impfens basiert auf der grundlegenden Idee, dass alle ein minimales Risiko für sich selbst in Kauf nehmen, damit sie und alle anderen gemeinsam geschützt sind. Jetzt gerade erleben wir die Wirkungsweise des eingeübten Egoismus. Vollkommene Impfgegner gab es schon immer, aber dass so viele Menschen, die Impfen an sich richtig finden, jetzt noch nicht einmal mehr bereit sind, das minimale Risiko selbst zu investieren, finde ich erschreckend. Je näher das Impfdatum kommt, desto häufiger höre ich das übrigens auch im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis.

Sind Teilnehmer von „Querdenken“-Demos vor allem Egoisten?

Man darf in einer Demokratie gegen Zustände, die zum eigenen Nachteil sind, demonstrieren. Wenn ein Einzelhändler nicht mehr vor und zurück weiß, hat er das gute Recht dazu. Aber zwei Fragen sollte man sich schon beantworten: Demonstriere ich zusammen mit Verfassungsfeinden? Dann sollte ich mir schnell eine andere Demo suchen. Und: Ergibt meine Forderung überhaupt einen Sinn? Wenn es darum geht, Maßnahmen anders zu gestalten, um ökonomische Grundlagen zu sichern: okay. Wenn ich aber dafür demonstriere, sämtliche Maßnahmen aufzuheben unter völliger Ignoranz für das Leben anderer, muss ich ertragen, dass mich jemand einen Egoisten nennt.

Zur Person

Erik Flügge ist 34 Jahre alt und lebt in Köln. Er hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, neben seinem jüngsten Buch „Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden“ auch den Spiegel-Bestseller „Der Jargon der Betroffenheit – wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“. Mit seiner Firma „Squirrel and Nuts“ berät er Politiker und Parteien im Wahlkampf sowie Kirchen und Verbände bei der Kommunikation. 

Nach vorne geschaut: Wie können wir als Gesellschaft den Egoismus in den Griff kriegen?

Weil es so viele Menschen gibt, die über Jahrzehnte gelernt haben, dass sie sich um sich selbst drehen, werden wir den Egoismus zunächst leider weiter ertragen müssen. Wir werden ertragen müssen, dass Menschen 2021 weiter „Querdenker“-Demos besuchen, wir werden massiv werben müssen für die Impfung. Nun könnten wir versuchen, das Gemeinwohl über den Appell an den Egoismus zu stärken. Indem wir beispielsweise strategisch-politische Vorteile mit der Impfung verknüpfen: Du darfst nur in Urlaub fahren, wenn du geimpft bist. Eine langfristige Strategie läge aber eher darin zu erkennen, dass wir es mit dem Betonen der Eigenverantwortung und Eigenfürsorge übertrieben haben. Das ist die zentrale politische Aufgabe der nächsten zehn Jahre: Erlebbar machen, dass sich gesellschaftlicher Zusammenhalt auszahlt – sonst werden wir keine große Herausforderung wie beispielsweise den Klimawandel bewältigen. Deshalb brauchen wir auch eine Antwort auf die Rentenfrage, damit die Idee vom wechselseitigen Generationenvertrag wieder lebt. Wir brauchen im schulischen Bereich definitiv weniger Trennung und mehr Gemeinsamkeit, damit man lernt, dass man kooperativ Probleme lösen kann.

Wie kann ich mir meinen persönlichen Egoismus abtrainieren?

Das Problem derzeit ist: Sie schaden sich selbst, wenn Sie das tun. Wer unter den herrschenden Regeln nicht nach sich selbst schaut, ist der Gelackmeierte. Wer immer zurücktritt, sorgt dafür, dass andere vor ihm sind. Dass wir den Egoismus nur einhegen können, wenn wir uns zum eigenen Nachteil selbst begrenzen, führt leider zu viel Frust. Eine Ausnahme gibt es: Auch im kommenden Jahr sind wir darauf angewiesen, dass sich viele Leute schlicht und ergreifend stoisch an die Regeln halten. Und es dabei ertragen, dass andere Menschen diese Regeln ignorieren und weiter heimlich Partys feiern.

Das Gespräch führte Sarah Brasack

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