Wiedergeburt der Kölner VeedelNachbarschaft erfährt in Corona-Zeiten eine Renaissance

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Aus vielen Fenstern schallt in diesen Tagen Haus­mu­sik, so wie hier in Nippes. Die Nachbarn hören gerne zu.

Aus vielen Fenstern schallt in diesen Tagen Haus­mu­sik, so wie hier in Nippes. Die Nachbarn hören gerne zu.

  • Tischtennis im Vorgarten, Karaoke im Innenhof und Konzerte vom Balkon: Nachbarschaft erfährt in Zeiten der Pandemie so etwas wie eine Renaissance.
  • Vor Corona war viel von abnehmendem Zusammenhalt in den Städten die Rede – davon ist gerade kaum etwas spürbar.
  • Was bleibt davon nach der Krise?

Köln – Die Tischtennisplatte hat eigentlich ein trauriges Schattendasein geführt. „Mindestens fünf Jahre stand die unberührt im Keller“, erzählt der Besitzer Sascha Ott. Jetzt ist die Platte der Star: Nicht diskret platziert hinten im Garten, sondern prominent im Vorgarten, wo der Pingpong-Sound der kleinen Hausgemeinschaft in Nippes seit Corona zum allabendlichen Ritual geworden ist.

Wenn am frühen Abend das vertraute Ping und Pong erklingt, geht auch die Tür im Nachbarhaus auf, und es gibt einen Plausch über den Gartenzaun. Wer vorbeiflaniert, bleibt stehen und quatscht ein bisschen. Hausmusik erklingt aus den geöffneten Fenstern. Als hier vor Wochen „Freude schöner Götterfunken“ erklang, hat man nämlich überrascht festgestellt, wer von den Nachbarn sonst noch so Instrumente spielt: Gitarre, Saxofon, Kontrabass, Trompete – alles da.

Jetzt sind beim Üben die Fenster öfter offen für musikalische Teilhabe im Vorbeigehen. „Man nimmt die Musik in der Straße ganz anders wahr, bleibt stehen und hört einfach zu“, meint ein Nachbar im Vorbeigehen. Die Straße lebt – abstandskonform. Trotz oder gerade wegen Corona.

Innenhof als Agora

Nachbarschaft erfährt in Zeiten der Pandemie so etwas wie eine Renaissance. „Plötzlich kommen Menschen, die schon zehn Jahre in einem Mehrfamilienhaus zusammengewohnt haben, ohne sich zu kennen, von Balkon zu Balkon miteinander in Kontakt“, bestätigt der Kölner Stadtsoziologe Davide Brocchi, der sich als Mit-Initiator des „Tags des guten Lebens“ schon lange mit der Nachbarschaft als Ressource für nachhaltige Stadtentwicklung befasst.

Henning Fischer ist erst vor einem Jahr mit seiner Familie hierher gezogen. „Seit Corona plaudert man mit den Nachbarn, auch weil man eben mehr zu Hause ist“, erzählt er. Die türkischstämmige Familie aus dem gegenüberliegenden Mehrfamilienhaus, die jetzt abends auf ihrem Balkon sitzt oder auch mal mit den beiden Kindern im Wohnzimmer tanzt, hat er dank Corona kennengelernt.

Die Krise habe so manchen Innenhof zur Agora gemacht, „in der man abends nicht nur klatscht, um Solidarität zu bekunden, sondern auch eine Art Selbstvergewisserung sucht, eine analoge Begegnung“, bestätigt Brocchi. „Wenn Urlaub in der Fremde nicht mehr geht und die Menschen sich stark von oben fremdbestimmt fühlen, wird das Veedel neu entdeckt, und das gute Leben beginnt vor der Haustür“, gibt er als Maßgabe aus.

Der analoge Plausch gewinnt an Stellenwert

In der Hausgemeinschaft von Peter Thölen in Ehrenfeld, in der zehn Parteien aus drei Generationen wohnen, haben sie spontan einen Karaokeabend gemacht. Thölen projizierte im Garten mit Beamer die Texte auf ein riesiges Betttuch und schmiss die Boxen an. Von den Fenstern und Balkonen wurde kräftig gesungen. „Das tat einfach gut, etwas gemeinsam zu machen.“

Jetzt, da die Mobilität abgenommen hat, konzentriert sich der Aktionsraum aufs eigene Quartier. Nach der anfänglichen Begeisterung über die Zoom-Meetings und Skype-Verabredungen am Abend hat der analoge Plausch von Balkon zu Balkon einen höheren Stellenwert bekommen. Weil Skypen halt doch nicht dasselbe ist wie die analoge Begegnung.

Aber es ist nicht nur die Nachbarschaft als Kompensation für fehlende räumliche Reichweite. Vor Corona war viel von abnehmendem Zusammenhalt in den Städten die Rede. Davon, dass die Globalisierung die verbindliche soziale Vernetzung im analogen Leben vor Ort reduziert.

Wie essenziell eine vernetzte Nachbarschaft ist, zeigt sich in Krisenzeiten

Jeder zweite Mieter in Großstädten sagte laut einer Emnid-Studie, dass er keinen seiner Nebenbewohner kennt. Jetzt aber zeigt sich eine riesige Solidaritätswelle unter Nachbarn. Als Erstes für die, die derzeit – wenn sie keine nahen Angehörigen vor Ort haben – existenziell darauf angewiesen sind: Für Alte und chronisch Kranke, denen Einkaufshilfen angeboten werden.

Die Plattform nebenan.de, die auf digitalem Weg analoge Nachbarschaftshilfe organisiert, erlebt einen Boom: Die Anmeldezahlen hätten sich in Köln allein im März im Vergleich zum Februar verdreifacht, bestätigt Vanessa Schultheiß von nebenan.de. In Köln gebe es aktuell 71 000 aktive Nutzer in 144 aktiven Nachbarschaften. Deutschlandweit seien es 1,6 Millionen. „Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie essenziell eine gut vernetzte Nachbarschaft ist.“

Erfolg der Veedelsretter

Auch der Einzelhandel im eigenen Veedel, die Kneipen, Veedelsrestaurants und die Kultureinrichtungen erfahren eine neue Wertschätzung. Über die Plattform Veedelsretter konnten die Kölner Gutscheine erwerben oder auch Solidarbeiträge einzahlen, um all diese besonders Betroffenen zu unterstützen. „Die Resonanz ist unglaublich positiv“, resümiert Martha Biadun, Sprecherin der Initiative. Knapp eine halbe Million Euro sei bislang zusammengekommen.

„Klar ist das für viele ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber die Dankbarkeit für diese Wertschätzung ist sehr groß.“ Bei den Veedelsrestaurants, die am meisten unter der Krise leiden, holen viele aus Solidarität ihr Essen „to go“. „Viele Stammkunden kommen regelmäßig“, berichtet Iris Giessauf, Wirtin des Lokals „Essers“, während sie im Fünf-Minuten-Takt Schnitzel und Bärlauchknödel durchs Fenster reicht. Sie wollen helfen, die Wirte durch die Krise zu tragen.

Es führt in diesem Fall dazu, dass das Wirtsehepaar nicht nur die Pacht erwirtschaften, sondern auch das Kurzarbeitergeld für die Mitarbeiter aufstocken konnte. „Einige merken besorgt, dass die Krise die Ungleichheit verschärft. Sie wollen nicht, dass nur Amazon der Krisen-Gewinner ist und Vielfalt verloren geht. Sie wollen ihr Quartier schützen“, erläutert Soziologe Brocchi, sie fürchten, dass etwas Wichtiges für ihre Lebensqualität auf der Strecke bleibe.

Was bleibt davon nach der Krise?

Ist die Frage, was von all dem bleibt, wenn die Krise irgendwann vorbei ist. „Ich hoffe, dass die aufgebaute Vertrautheit der Nachbarn bleibt“, meint Ott. Was allemal bleibt, ist so etwas wie eine Röntgenaufnahme, die Auskunft gibt über die Verfassung der Stadtgesellschaft.

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Und die gute Nachricht, dass die temporäre Entglobalisierung im Veedel funktioniert und das Nachbarschaftliche als Sozialkapital relevanter ist als gedacht. Aber vielleicht bleibt ja noch mehr, hofft Brocchi. Etwa die Wahrnehmung, wie toll das ist, wenn Straßen plötzlich autofrei sind und Kinder dort Federball spielen. Vielleicht gebe es nach der Krise auch noch mehr kreatives Eigenengagement.

„Gerade wenn danach das ganze Ausmaß der Wirtschaftskrise zutage tritt und es keine einfachen Lösungen von oben gibt, braucht es Viertel und Nachbarschaften, die den Zusammenhalt stärken.“ Eigentlich meint er, bräuchte es eine Art Veedelswohnzimmer in jedem Quartier. Viele hätten die kleinen Plätze und Spielareale in ihren Vierteln schon vor der Krise zu solchen Begegnungsräumen gemacht. „Vielleicht werden es nach der Krise noch mehr.“

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