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Zu schnelle Diagnose der Schulen?Jeder zehnte Kölner Erstklässler hat Förderbedarf

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Inklusion

Bald ist für die Erstklässler der erste Schultag.

Köln – Immer mehr Kinder in Köln haben sonderpädagogischen Förderbedarf. Jedem zehnten Kölner Erstklässler wird dies inzwischen offiziell attestiert. Betrachtet man die Zahlen von der ersten bis zur zehnten Klasse liegt die Quote der Förderschülerinnen und Förderschüler in Köln bei 8,7 Prozent. Und jedes Jahr werden es mehr: Allein für das kommende Jahr erwartet die Stadt über alle Schulformen betrachtet einen erneuten Anstieg um fünf Prozent.

Ein Trend, der sich auch in ganz NRW abbildet: Dort wurden im laufenden Schuljahr 141.000 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschult. Ein Plus von 2,5 Prozent allein gegenüber dem letzten Schuljahr und rund 20 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Allein drei Viertel der betroffenen Kölner Kinder wurde eine Lern- und Entwicklungsverzögerung attestiert.

Mehr Inklusionskinder pro Regelklasse in Köln

Die Stadt stellt das vor riesige Herausforderungen: Denn es gibt schon jetzt viel zu wenig Inklusionsplätze an den Kölner Schulen: Allein an den Gesamtschulen, wo die meisten Kinder mit Förderbedarf angemeldet wurden, mussten im vergangenen Schuljahr 138 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf abgelehnt werden. Sie konnten es dann an Real- und Hauptschulen versuchen. Nächstes Schuljahr wird der Mangel an Plätzen für das gemeinsame Lernen noch dramatischer werden: Daher soll nun die Zahl der Inklusionskinder, die in einer Klasse sitzen dürfen, angehoben werden: derzeit wird geprüft, im neuen Schuljahr 2022/23 an den Gesamtschulen vier statt bisher drei Inklusionsschüler pro Klasse aufzunehmen.

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Außerdem wird von der Schulaufsicht derzeit geprüft, inwieweit die Gymnasien aufgrund der Mangelsituation für das gemeinsame Lernen wieder ins Boot geholt werden. Dem Vernehmen nach sollen zwei Gymnasien dazu verpflichtet werden, wieder Schüler im gemeinsamen Lernen aufzunehmen. Die aktuelle Landesregierung hatte die Gymnasien vor einigen Jahren aus der Inklusion herausgenommen – dadurch, dass rund die Hälfte der weiterführenden Schulen in Köln Gymnasien sind, lag damit bislang um so mehr Last auf den anderen Schulformen, vornehmlich auf den Gesamtschulen.

Woher kommen die vielen Kinder mit Förderbedarf?

Die Frage, die sich drängend stellt, ist aber nicht nur, wo die Plätze für die Inklusionskinder herkommen sollen. Zentral ist vielmehr auch eine Antwort auf die Frage, woher die vielen, vielen Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf plötzlich kommen und warum es immer mehr werden. „Natürlich hat die Platznot ihren Ursprung in der desaströsen Schulentwicklungsplanung der Stadt in den letzten 20 Jahren“, sagt Eva-Maria Thoms, Sprecherin des Vereins „Mittendrin“, der Familien seit 2006 zum Thema Inklusion berät. Aber das ist eben nur ein Faktor: Auslöser ist, dass an den Schulen etwas stattfindet, was der Inklusionsforscher Professor Hans „Etikettierungsschwemme“ nennt.

Auch an Kölner Grundschulen laufe das so, dass Risikoschüler sehr schnell als Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf identifiziert und etikettiert würden, hat Thoms beobachtet. Teilweise schon bei den Anmeldegesprächen werde – zumal seit Beginn der Corona-Pandemie – genau geschaut, ob Förderbedarf besteht. „Wenn die Schulleitung das dann erkennt, wird teilweise sogar schon vorauseilend der Antrag auf sonderpädagogischen Förderbedarf gestellt, bevor das Kind überhaupt seinen ersten Schultag hatte.“ Diese „schnelle Etikettierung“ führt dazu, dass an Kölner Grundschulen an sozialen Brennpunkten in den ersten Klassen bis zu 30 Prozent Förderschüler sitzen. Aus Sicht der Schule macht das Sinn: Sie bekommt für jeden Förderschüler zusätzliche personelle Ressourcen durch Sonderpädagogen-Stunden.

Kampf um Ressourcen unter Schulleitern

„Jeder Schulleiter will angesichts der absoluten Ressourcenknappheit verständlicherweise so viel Personal wie möglich. Und er tut das in wohlmeinender Absicht. Nur für die Kinder hat das schwerwiegende Folgen“, erläutert Thoms. Sie liefen nicht selten für den Rest ihrer Schullaufbahn mit dem Etikett Förderschüler herum, also mit dem Etikett einer Behinderung. Auch die Chancen, mit der Förderung Anschluss zu finden, seien gering, da die betreffenden Kinder als Förderschüler von vorneherein weniger umfänglichen Lernstoff bekämen.

Thoms weiß, dass die Schulleitungen das in guter Absicht tun, dass allerdings etwas ganz anderes nötig wäre: Nicht sonderpädagogischer Bedarf, sondern viel mehr Personal für ganz normale individuelle Förderung im Unterricht. Viele betroffene Kinder kommen aus problematischen sozialen Verhältnissen und brauchen genau dies – und zwar als gewöhnliches Kind in der Klasse und nicht über ein Etikett als Förderschüler. „Aber dafür ist eben an den Schulen keine Ressource da.“ Obwohl das NRW-Schulministerium verkündet habe, dass zum neuen Schuljahr einen Sozialindex eingeführt hat, dass in Schulen mit sozial benachteiligten Schülern mehr Personal eingesetzt werden soll. „Es gibt dieses Personal einfach nicht.“

Auch mehr Kinder an Förderschulen

Neben der wachsenden Zahl von Kindern mit Förderbedarf an Regelschulen steigt aber parallel auch die Zahl der Kölner Kinder an Förderschulen. In den letzten zehn Jahren erhöhte sich etwa die Zahl der Lernenden mit emotionaler Entwicklungsstörung um zwölf Prozent. „Viele Eltern sind auch einfach mürbe geworden, weil Kindern mit Förderbedarf oft kein wohnortnaher Schulplatz an einer Regelschule angeboten wird“, begründet Thoms diesen parallelen Trend. Denn es gibt die Auflage, dass Kinder „zielgleich“ gefördert werden müssen.

Hat also ein Schüler eine Realschulempfehlung und meldet an der wohnortnahen Realschule an, muss dieser genommen werden, während der Angemeldete mit Förderbedarf das Nachsehen hat. Das führt laut Thoms dazu, dass Schüler mit Förderbedarf oft Schulplätze zugewiesen bekämen, die sehr weit von ihrem Zuhause entfernt lägen. „Lange Schulwege auf die andere Rheinseite sind die Folge.“ Viele Eltern, die den Transport ja vielfach übernehmen müssten, zögen da angesichts der immensen Belastung irgendwann die Reißleine und bevorzugten die Förderschule. Dort gibt es einen Fahrdienst, der die Kinder bringt und holt.

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