Zwei Kölner Mediziner im Streit der WocheIst der harte Lockdown überhaupt sinnvoll?

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Die Domplatte, eigentlich einer der belebtesten Plätze der Stadt.

Trotz Lockdown bekommt Deutschland die Corona-Pandemie derzeit kaum in den Griff. Die Todeszahlen sind höher als je zuvor. Die Zielvorgabe, eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50, ist in weiter Ferne. Braucht es bis dahin weitere Verschärfungen – oder sollte Deutschland den Lockdown bald beenden und mehr Ressourcen in den Schutz der Risikogruppen stecken? In unserem „Streit der Woche“ diskutieren zwei Kölner Mediziner diese Frage. Der Onkologe Prof. Michael Hallek, verantwortlich im Pandemie-Stab der Kölner Uniklinik und Prof. Matthias Schrappe, ehemaliger Berater der Bundesregierung, sind fundamental unterschiedlicher Meinung: Während Letzterer gegen die Fortsetzung des Lockdown ist, plädiert Prof. Michael Hallek dafür.

Contra: Das Lockdown-Konzept stimmt nicht

„Hart“, „streng“, „auf unabsehbare Zeit“, „Kontakte ganz einstellen“: Die Maßnahmen werden kafkaesk überdreht. Warum? Weil das Konzept nicht stimmt. Schon am ersten Lockdown gab es berechtigte Zweifel, aber nach mehr als zwei Monaten im zweiten Lockdown haben wir nun noch immer mehr als 5000 Tote pro Woche, 89 Prozent davon alter als 70 Jahre – sieht so ein Erfolg aus? Eher nicht!

Das Mittel der Wahl wäre gewesen, differenzierte Kontakteinschränkungen und den Schutz der vulnerablen Gruppen miteinander zu kombinieren. Dies haben die Verantwortlichen konsequent ignoriert. Statt den Rat von Experten für eine moderne Infektionskontrolle einzuholen, wurden Physiker gefragt, Computermodell-Epidemiologen und Theorie-Virologen.

Sie wiederholten immer das gleiche Mantra, Aufbruchsstimmung konnte nicht entstehen. Aus der Risikoforschung wissen wir: Bedrohung reicht als Motivation nur für kurze Zeit, dann muss die Führungsebene sich ein neues Narrativ einfallen lassen. Weg von Bergamo, hin zu einem Ärmelhochkrempeln, die Vulnerablen schützen und unterstützen – und das selbstverständlich ohne die beredte Assoziation des Wegsperrens.

Es gibt keine Zahlenbasis, die als Grundlage für Maßnahmen und vor allem für die Feinjustierung dienen könnte. Wir zählen Meldungen, die nicht vom Stichprobenumfang zu trennen sind, Dunkelziffer unbekannt. Die „Inzidenz“ ist keine Inzidenz (dafür bräuchten wir Kohortenstudien). Die Grenzwerte à la „50/100 000“ sind zwar gesetzlich normiert, in der Sache jedoch sinnlos. Und sie sind – vor allem im Winter – nicht erreichbar.

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Aber wie will man die Bevölkerung zum Mitmachen motivieren, wenn die Ziele illusorisch sind? Nun soll es die Impfung richten. Aber auch hierbei werden viele handwerkliche Fehler gemacht. Schleppende Verteilung des Impfstoffs, keine klare Linie bei der Frage nach einer Impfpflicht, schlechte Kommunikation bei der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Impfstoffen. Auch die Diskrepanz zwischen dem individuellem Schutz der Impfung (wissenschaftlich belegt) und einem Gruppenschutz (nicht belegt) – wird nicht offen diskutiert. Soll man sich wundern, dass sich bei den Pflegeheimmitarbeitern wenig Euphorie breitmacht?

Das mit der Prämie hat vielerorts nicht geklappt und jetzt sollen sie Nebenwirkungen zum Gruppenschutz in Kauf nehmen? Die Impfung ist ein komplexes gesellschaftliches Großprojekt. Die Einbeziehung von Experten u.a. aus Infektionssteuerung, Psychologie, Soziologie, Recht wäre auch hier zwingend.

Menschliche Würde wird verletzt

Eine Epidemie ist Biologie plus individuelles Verhalten plus Politik. Die Unterausstattung der Krankenhäuser in London, der Mangel an Intensivbetten in Marseille, die alleingelassene ambulante Pflege in Deutschland – alles Konsequenzen politischen Handelns. Würden wir uns nicht nur auf die Wirkung des „Lockdown“ verlassen, sondern politisch kreativ werden, könnten die Kontakteinschränkungen differenzierter gestaltet werden, man müsste nicht ganze Wirtschaftszweige lahmlegen, die schon gute Programme ausgearbeitet hatten.

Man müsste nicht die gesamte Kultur ausschalten, man müsste nicht die menschliche Würde verletzen, wenn Angehörige ihre Lieben nicht mehr beim Sterben begleiten können.

Es ist Zeit für ein Innehalten der Politik. Zeit, einzugestehen, dass ein falscher Weg eingeschlagen wurde. Zeit für neue Ideen und neue Wege.

Prof. Matthias Schrappe

Pro: „Wir haben gar keinen wirklichen Lockdown“

Die derzeitige Strategie, mittels eines ausgedehnten Lockdowns die neuen Infektionszahlen zu drücken, funktioniert nur zögerlich und wird deshalb erneut diskutiert. Es ist festzuhalten, dass wir im Gegensatz zur ersten Welle im Frühjahr keinen wirklichen Lockdown haben, sondern die industrielle Produktion und Wirtschaft in großen Teilen weiter funktioniert.

Schutzmaßnahmen auf Risikogruppen fokussieren?

Ein Vorschlag, der zurzeit wieder aufflammt ist, die Schutzmaßnahmen auf Risikogruppen zu reduzieren. Dieser Weg hat in einigen Ländern am Anfang der Corona-Pandemie große Popularität gehabt, aber keine Ergebnisse erzielt, die in irgendeiner Weise darauf hoffen lassen, dass dieses Vorgehen sinnvoll ist. Beispiele dafür sind Schweden aber auch das Vereinigte Königreich.

Das Problem: Die Risikogruppen sind so groß, dass man sie nicht so einfach vom Rest der Bevölkerung isolieren kann. Etwa 22 Prozent der Deutschen sind älter als 65 Jahre. Davon leben zwei Drittel in Mehrpersonenhaushalten, also nicht in Pflegeeinrichtungen. Man müsste folglich diese Risikogruppen innerhalb der Haushalte isolieren von den anderen Gruppen. Wie dies gelingen soll, ist fraglich. Zudem gibt es zahlreiche andere Risikogruppen, zum Beispiel immunsuppremierte Patienten nach Transplantation oder Krebspatienten. Insgesamt gehören Schätzungen zu Folge demnach 40 Prozent der Bevölkerung zur Risikogruppe. Eine solch große Gruppe zu isolieren und zu versorgen ist unmöglich.

Langwierige Nebenwirkungen

Zudem: Auch junge Menschen können an COVID-19 erkranken. Manche leiden an Nebenwirkungen die nach sechs Monaten noch messbar sind. Untersuchungen sowohl in China als auch in angelsächsischen Ländern und letztlich an unserer eigenen Einrichtung zeigen, dass zehn bis zwanzig Prozent aller einmal infizierten Patienten eine längere Symptomatik entwickeln, selbst wenn sie initial nicht erkrankt waren. Dieses Krankheitsbild, auch Post-COVID-Syndrom oder Long-COVID genannt, wird oft verschwiegen.

Zuletzt lässt sich eine Pandemie nicht bekämpfen durch singuläre Maßnahmen von Sondergruppenisolation, Impfungen, oder der elektronischen Überwachung von Patienten durch Corona-Apps. All diese Maßnahmen müssen ineinandergreifen, aufeinander abgestimmt werden und funktionieren nur in gesellschaftlichem Konsens. Um die Pandemie zu überstehen, müssen alle Bereiche optimiert und abgestimmt werden. Im Krankenhaus passiert das seit Beginn der Krise mit großem Erfolg.

Einfache Maßnahmen

Wir nehmen hier täglich neue Patienten auf, die von außen COVID-SARS_CO2 Infektionen mitbringen können. Wir können trotz einer Behandlung von ungefähr 60 Patienten am Tag erreichen, dass sich die restlichen Patienten und das Pflegepersonal in der Regel nicht infizieren. Die Maßnahmen sind einfach: Abstandsregeln, Hygiene, Maskentragen. Wenn alle diese Regeln konsequent und immer anwenden würde, könnten wir ohne Mühe die Anzahl der Neuinfektionen auf Werte nahe null drücken.

Sydney und Melbourne, Tokio, aber auch europäische Länder haben dies erfolgreich angewandt und können dort bereits wieder Fußballspiele oder Rugbyspiele in vollen Stadien genießen.

Die zum Teil sehr kontroverse und auf Einzelmaßnahmen fokussierte Diskussionen in westlichen Gesellschaften führt dazu, dass wir klar fokussierte Ziele aufgeben. Es ist ohne jede Frage, dass die älteren Menschen besonderen Schutz bedürfen. Und natürlich muss auch die Impfung den Beitrag leisten, den wir von ihr erhoffen. Die volle Wirkung der Impfung wird allerdings erst gegen Ende des Jahres erreicht werden. Bis dahin müssen wir noch durch die klassischen Werkzeuge der Pandemiebekämpfung vorankommen und zwar alle gemeinsam.

Prof. Michael Hallek 

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