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Kölner Weekend-FestZurück in die Zukunft mit Sun Ra und Arthur Verocai

Lesezeit 4 Minuten
Weekend19

 The Sun Ra Arkestra

Köln – Der Hüter der Zukunft ist fast ein Jahrhundert alt. Aber Marshall Allen, geboren 1924, steht kosmisch-ägyptisch gewandet, kerzengerade und mit ungebrochener Energie auf der Bühne der Stadthalle Mülheim und sendet mit seinem Altsaxophon schrill-flirrende Signale zu den Gestirnen. Oder entlockt seinem elektronischen Blaswandler, einem schwarzen Zauberstab, erfunden im Jahrzehnt der Mondlandung, extraterrestrische Töne. Denn selbstredend ist die Zukunft, die Allen mit dem Sun Ra Arkestra seit 1958 heraufbeschwört, längst vergangen. Und Sun Ra, der legendäre, vorgeblich auf dem Saturn geborene Big-Band-Leader, ist bereits 1993 in höhere Ebenen aufgestiegen.

Seitdem verwaltet Allen das Erbe, oder hält es vielmehr am Leben. Das Arkestra schlägt, wie schon zu Sun Ras Zeiten, einen weiten Bogen von den Anfängen des Jazz in New Orleans bis in die unendlichen Weiten des Weltraums. Weshalb es eine Art Idealbesetzung für das Weekend-Fest darstellt, das jetzt zum neunten Mal in Köln stattfand. Denn auch das hat es sich zur Aufgabe gemacht, fast verschüttete Traditionen für die Zukunft fortzuschreiben, und, frei nach Walter Benjamin, nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben.

„Space is the Place“ lautet der bekannteste Slogan Sun Ras. In Köln zitiert ihn Saxofonist Knoel Scott, seit 1979 Passagier auf der Arche, im sonoren Bariton, später wird er noch auf der Bühne Räder schlagen. Die erzwungene Diaspora der Afroamerikaner hat Sun Ra zum Weltraumprojekt umgeformt, wer die Transatlantik-Passage im Sklavenschiff überlebt hat, ist wahrscheinlich der ideale Astronaut. Aber das Arkestra ist nicht exklusiv, es lädt das Kölner Publikum fröhlich swingend mit ein zur Fahrt. 

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Der Kontrast zum letzten Auftritt des ersten Weekend-Abends könnte nicht größer sein: Die junge Londonerin Tirzah steht die meiste Zeit still vorm Mikrofonständer, singt ihre extrem fokussierten Beziehungsalltagsbeobachtungen mit maximaler Mühelosigkeit, die ihre beiden Begleiterinnen hinter einem Pult in einen fröhlich blubbernden, aber aufs Nötigste reduzierten Elektronik-Soundtrack betten. Eine davon ist auch die Komponistin dieser lakonischen Liebeslieder, Tirzahs Jugendfreundin Mica Levi, berühmt und Oscar-nominiert für ihre experimentellen Filmscores („Under the Skin“, „Jackie“). So klingt die Gegenwart. Aber die Zukunft ist im Werden: Unter einem Sun-Ra-Sweatshirt verbirgt die Sängerin ein Babybäuchlein.

Der Abend hatte schon wunderbar angefangen, mit einem hochkonzentriert improvisierten Set des Fred Frith Trios, bei dem der Altmeister der präparierten E-Gitarre unter anderem mit einer Schuhbürste über die Saiten schrubbte und mit einem traumwandlerischen Auftritt der Japanerin Eiko Ishibashi, die Querflöte und Klavier zu weichen Klangwiesen loopte, die sie dann von gleich zwei Schlagzeugern beharken ließ.

Nach dem jazzigen Freitag brachte der Samstag donnernden Experimental-R‘n‘B der iranischstämmigen Londonerin Lafawndah, verspielten Minipop-Songs des japanischen Duos Emerson Kitamura und mmm (die charmant-schüchterne Sängerin wird Me-My-Mo ausgesprochen) und auch eine echte Enttäuschung: Eigentlich sollte der jamaikanische Dub-Pionier Scientist sein klassisches Album „Scientist Rids the World of the Evil Curse of the Vampires“ aufführen. Stattdessen fummelte der Klangforscher mürrisch, aber lange Zeit ergebnislos an seinem Mischpult, während eine Londoner Reggae-Band kompetente, aber eben nur nette Musik zum Feierabend-Joint muckte. Erst zu spät und auch zu selten griff Scientist dann etwas beherzter in deren Spiel ein, riss riesige Hallräume auf, wo vorher nur fröhliches Tanzen zum Off-Beat angesagt war.

Aber das war nur der Ausklang zum beglückenden Hauptereignis des Abends: Weekend-Macher Jan Lankisch hatte den brasilianischen Arrangeur Arthur Verocai überredet, sein einziges Album aus dem Jahre 1972 noch einmal aufzuführen, und ihm dazu ein Jazz-Orchester aus Kölner Musikern zusammengestellt. Der 74-Jährige brachte seinen Sohn am Klavier und eine Sängerin mit. Verocais Debüt war bei Erscheinen sang- und klanglos untergegangen, gilt heute aber als Schlüsselwerk der populären brasilianischen Musik und wurde vom Publikum auch dementsprechend gefeiert. Der Maestro bedankte sich in aller Bescheidenheit, murmelte „das habe ich doch gar nicht verdient“, und war sichtlich gerührt. Die Abfolge der Songs hatte er fürs Konzert umgestellt, aber es lag nicht nur daran, dass was auf Platte noch nach „saudade“, der landesspezifischen Form sehnsüchtigen Weltschmerzes, hier gelöst, ja triumphal klang. Schließlich hatte man gerade mit vereinten, den Atlantik überspannenden Kräften ein verloren geglaubtes Meisterwerk ins Leben zurückgeholt. Insofern lässt sich also sagen: Das Weekend-Fest schreibt Geschichte.  

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