„Elektra“ an der Oper BonnEnrico Lübbe gelingt aufwühlende Neuinszenierung

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Elektra (Aile Asszonyi) will Rache

Elektra (Aile Asszonyi) will Rache

  • Enrico Lübbe gelingt eine hörenswerte Neuinszenierung von Richard Strauss’ „Elektra“ an der Oper Bonn. Die Kritik

Bonn – Die Bühne zeigt ein prachtvolles Treppenhaus, wie in einem Palais oder Opernhaus der Entstehungszeit von Richard Straussʼ „Elektra“ 1905 bis 1908. Die Herrschaft oben sieht man nicht, doch unten im Foyer stapeln Lakaien Müllsäcke. Das Haus der Atriden wird entrümpelt. Entsorgt werden neben allerlei antikem Krempel auch Harnisch und Thron von Agamemnon, vor allem die blutverschmierte Badewanne, in welcher der Feldherr nach der Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg von seiner Frau Klytämnestra und deren Liebhaber Aegisth erschlagen wurde. Vom neuen Herrscherpaar verstoßen haust zwischen dem Gerümpel Elektra, die Tochter und ödipale Nachlassverwalterin des Ermordeten.

Von der Bluttat traumatisiert, fantasiert sie ihren Bruder Orest als Rächer herbei. Und Enrico Lübbes Neuinszenierung an der Oper Bonn lässt als Phantasmagorie tatsächlich gleich acht Oreste blutrünstig die Äxte schwingen, denen sich ebenso viele bräutlich geschmückte Elektras beigesellen. Die krankhafte Rachsucht der Schwester wird so überdeutlich als inzestuöse Begierde nach dem Bruder diagnostiziert. Das spätere Wiedersehen der Geschwister komponierte Strauss dagegen als katastrophische Kombination aus Jubel und Zusammenbruch, weil die armselige Wirklichkeit dem langgehegten Wunschbild nicht entspricht.

Wie in den gequälten Seelen brodelt es im Orchester. Es wühlt, kreischt und zuckt vor Nervosität, als habe Strauss eine Neurasthenie komponiert, ein tönendes Psychogramm jener zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Druck von Industrieller Revolution, Endzeitstimmung, Kriegsgefahr und repressiver Moral epidemisch um sich greifenden Gemütskrankheit.

In der Hauptrolle dominiert Aile Asszonyi in schwarz verdrecktem Kleid mit umso heller durchdringendem Sopran, bei dem man sich nur mehr Textverständlichkeit gewünscht hätte. Umgekehrt gibt Nicole Piccolomini im goldenen Paillettenkleid eine äußerlich von Licht überströmte, innerlich jedoch zur lebenden Toten verdüsterte Klytämnestra. Im Libretto von Hugo von Hofmannsthal fühlt sie sich „wie ein Kleid zerfressen von den Motten“. Nach siebzig Minuten weiblicher Hysterie erscheint schließlich der voluminöse Bass von Martin Tzonev wie eine Inkarnation männliche Entschlossenheit. Körperlich zwar ein Wrack, hinkend und mit gelähmtem Arm, handelt Orest dennoch unbeirrbar wie der Vollstrecker des unabwendbaren von den Göttern verhängten Fatums.

So modern komponierte Strauss nie wieder

Hauptakteur und psychologisierender Erzähler ist indes wie in Wagners Musikdramen das großbesetzte Orchester mit all seinen Leitmotiven, Leitakkorden, Leitinstrumentationen. So modern wie hier komponierte Richard Strauss nie wieder. Die Partitur ist voll dissonanter Schärfen, extremer Spannungen und Kontraste.

Wie Alpträume aus den Gepeinigten zieht Generalmusikdirektor Dirk Kaftan aus dem Beethoven Orchester hypernervöse Fieberkurven und polyphones Dornengestrüpp, dessen schnell wechselnde Klang- beziehungsweise Seelenzustände wie wilde Neurosen und Psychosen erblühen. Hier treiben obsessiv rotierende Figuren zum finalen Gewaltakt als drängte die Musik zum Orgasmus. Dort wird alles volltönende Schmeicheln und luxurierende Schwelgen in Wohlklang als Lug und Trug entlarvt.

Produktion beschränkt sich auf Zeichnung der Einzelschicksale

Das Ende gleicht dem Anfang. Die neue Herrschaft ist ihrerseits ermordet und wird in Müllsäcken entsorgt. Zurück bleiben der Mörder und Elektra, die nach Erreichen ihres einzigen Ziels nun allen Lebenssinn verloren haben. Das Bühnenbild von Etienne Pluss bietet eine pragmatische, doch wenig aussagekräftige Kulisse. Die szenische Selbstreferenz auf ein Opernfoyer bleibt folgenlos.

Die gesamte Produktion beschränkt sich auf psychologische Zeichnung der Einzelschicksale, statt die fatale Familienaufstellung historisch oder gesellschaftlich zu deuten, vielleicht stellvertretend für die Sozialcharaktere traumatisierter Kriegsväter- und Kriegskindergenerationen. Doch auch ohne neue Lesart ist diese Bonner „Elektra“ ein aufwühlendes Opernerlebnis.

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