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„Tausend Zeilen Lügen“Wie Juan Moreno das System Claas Relotius entlarvte

Lesezeit 5 Minuten
  • Juan Moreno arbeitet als freier Journalist für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Der 36-Jährige entdeckte vor knapp einem Jahr in der Zusammenarbeit mit Claas Relotius Unstimmigkeiten und entlarve schließlich seinen Kollegen als Lügner.
  • In seinem Buch „Tausend Zeilen Lügen. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ beschreibt Moreno den Weg von ersten Zweifeln über Gegenwind bis hin zur Aufdeckung eines der größten Skandale der Journalismus-Geschichte.
  • Das Buch ist fesselnd, spannend, reich an dramatischen Entwicklungen und Zuspitzungen. Kurzum: Es hat alle Qualitäten eines guten Krimis. Das ist es aber nicht allein.

Köln – „Wenn ich es könnte“, sagt Juan Moreno im Interview mit der „Berliner Zeitung“, „würde ich sofort ein Jahr zurückgehen. Ich hätte wie damals ein paar Fragen an einen Text, den Relotius mit mir geschrieben hat. Die Redaktion hätte sie geklärt, und ich wäre raus gewesen.“

Nun gibt es eine biografische Reset-Taste leider nicht, aber wer Morenos soeben erschienenes Buch „Tausend Zeilen Lügen. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ liest, kann den fiktiven Wunsch des Verfassers, auf „Los“ zurückzugehen, in jeder Hinsicht nachvollziehen.

„Jaegers Grenze“ von Claas Relotius sorgt für Zweifel

So richtig los ging das Ganze vor nicht einmal einem Jahr, nämlich am 27. November 2018. Damals erschien im „Spiegel“, wo Moreno als freier Autor tätig ist, die von ihm und dem vielfach preisgekrönten „Spiegel“-Redakteur Claas Relotius gemeinsam verfasste Reportage „Jaegers Grenze“.

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Dort ging es zum einen um den legendären Migrantentreck aus Mittelamerika Richtung US-Südgrenze, zum anderen um jene selbst ernannten Grenzwächter, um Angehörige einer (mehr oder weniger rechtsradikalen) Bürgerwehr, die  besagte Migranten am Überqueren  ihrer Sehnsuchtslinie hindern wollten. Für die Treck-Abschnitte  war Moreno zuständig gewesen, für  die Bürgerwehr-Partien Relotius.

Juan Moreno findet heraus: „Jaegers Grenze“ ist erstunken und erlogen

Etliches   an dessen  Zulieferungen  kommt dem Partner freilich gleich spanisch vor: Ein Typ namens Chris Jaeger – die Titelfigur der Geschichte – ballert am Ende bei Relotius auf einen mutmaßlichen Flüchtling. Wieso, fragt sich Moreno, begeht einer ausgerechnet vor einem Journalisten eine offensichtliche Straftat? Und warum liefert der Co-Autor dieses spektakuläre Highlight erst in der Zweitversion seiner Reportage nach?

Moreno schöpft Verdacht, beginnt zu recherchieren, macht Gegenchecks, spricht mit bei Relotius angeblich Beteiligten und findet heraus:  Die Geschichte ist von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Relotius ist nicht an der mexikanischen Grenze gewesen, es gibt  keinen „Jaeger“ (das Foto, das diesen angeblich zeigt, ist tatsächlich die Aufnahme eines gewissen Maloof,   der eine ganz andere Biografie als „Jaeger“ hat), keine  paramilitärische Truppe, wie er sie beschreibt, keine Schüsse auf Migranten.

„Das System Claas R. bricht zusammen“

Nach wochenlang virtuos durchgehaltener Leugnungsstrategie muss Relotius im Dezember 2018 schließlich angesichts der Wucht der  Gegenbeweise die Waffen strecken – „das System Claas R. bricht zusammen“, wird Moreno damals kurz von Ullrich Fichtner beschieden, dem zuständigen Leiter des „Spiegel“-Ressorts Gesellschaft.  

Am 19. des Monats veröffentlicht das Magazin dann die Enthüllung in eigener Sache.  Angesichts  der  virulenten Debatte über „Lügenpresse“ und „Fake News“ gilt dieses Eingeständnis nicht nur dem definitiven publizistischen GAU der „Spiegel“-Geschichte,  vielmehr stehen  Renommee und Vertrauenswürdigkeit des Qualitätsjournalismus insgesamt zur Disposition.

Juan Moreno am Rande des Abgrunds

Aber nicht nur deshalb war für Moreno selbst jener 19. Dezember kein Tag der Rundum-Genugtuung. Denn die Wochen zuvor hatten ihn und auch seine Familie mit Ehefrau und vier Töchtern an einen Abgrund geführt, den er im Interview so beschreibt: „Ich würde gefeuert und stünde in der Branche da als der Schuft, der dem Starautor vom Spiegel was anhängen wollte. Da kriegst du kein Bein mehr auf den Boden. Das ist der berufliche und gesellschaftliche Ruin.“

Tatsächlich  waren diese  Wochen ein Mehrfrontenkrieg – hier die aufreibenden Privatrecherchen zu Relotius  und dort der  verzweifelte Kampf mit einem und gegen einen  überzeugungsunwilligen Arbeitgeber, der an dem anderen unbedingt festhalten wollte.  

Mehr als ein fesselnder Krimi

Die Leiter des Ressorts, Fichtner und Matthias Geyer, die Relotius entdeckt hatten, sollten Blattmacher werden beziehungsweise in die Chefredaktion aufsteigen und Relotius ihnen als Ressortleiter folgen. In dieser Konstellation war Moreno der falsche Mann am falschen Ort – jemand, der, wie er einmal schreibt, einen Fuß in die Tür eines startbereiten Aufzugs stellt.

Das Buch ist fesselnd, spannend, reich an dramatischen Entwicklungen und Zuspitzungen, in deren Zuge der Reporter   zum mit allen Wassern gewaschenen Detektiv mutiert. Kurzum: Es hat alle Qualitäten eines guten Krimis. Das ist es aber nicht allein. Jenseits der äußeren Handlungsabläufe stellt Moreno  die freilich nahe liegende Frage, wie ein notorischer Lügner und Betrüger wie Relotius, der nicht nur zahlreiche Fake-Stories verfasste, sondern sich mit einer angeblich krebskranken Schwester und anderen Erfindungen auch eine falsche personale Identität zulegte – wie Relotius also  so lange Zeit unbehelligt durch die Kontrollmaschen des Systems schlüpfen konnte.

Juan Moreno: „Viele wollten glauben, was er schrieb, denn es war, was seine Leser glaubten“

Die Antwort bleibt er nicht schuldig – und er belässt es auch nicht bei dem Hinweis auf der Aufdeckung abträgliche zufällige Karriere-Konstellationen. Nein, Relotius lieferte, so Moreno,  vielmehr Stories, die erkennbar die Erwartungen eines breiten Lesepublikums erfüllten und deshalb für auflagenerpichte Vorgesetzte  in jedem Fall attraktiv waren. 

Er malte keine unbequemen Graubilder, sondern teilte die Realität in schwarz und weiß und bediente damit das  Bedürfnis nach moralisierender Beruhigung und Plausibilität: „Viele wollten glauben, was er schrieb, denn es war, was seine Leser glaubten. Er beschützte sie vor der Wahrheit.“

Was ist das eigentlich, die Wirklichkeit?

„Reportagen“, schreibt Moreno gegen Ende seines Buches, „sind Erzählungen, die auf Fakten basieren, aber in ihrer Einordnung darüber hinausgehen. Ihre Geschäftsgrundlage ist jedoch: Die Menschen existieren, die Ereignisse haben stattgefunden, die Sätze wurden gesagt.“ Und das eben nicht in der Fantasie des Schreibers,  also in einer literarischen, sondern in einer „wirklichen“ Wirklichkeit.

Das klingt simpel – und macht dem journalistischen Ethos des Autors alle Ehre –, ist es aber nicht. Denn  es sind stets die Kontexte, in die sie gestellt werden, die Menschen, Dinge, Sätze  erst zu dem machen, als was sie im Text erscheinen.  Im Fall Relotius ging es um krass-raffinierte Fälschungen. Aber jenseits solcher Fälschungen lauert noch  ein ganz anderes vertracktes Problem: Was ist das eigentlich, die Wirklichkeit?

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