„Goebbels würde sagen: Wunderbar!“

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Herr Professor Stern, „100 Jahre Alijah: Zionismus, Utopie und die andauernde Flucht vor dem europäischen Antisemitismus“, so betiteln Sie Ihren Vortrag, den Sie in Köln halten. Was haben die Zuhörer und Zuschauer zu erwarten?

Es wird ein audiovisueller Vortrag sein, das heißt, es geht um Plakate, Poster, und insbesondere geht es um Filme, dokumentarische wie Spielfilme, die zum großen Teil in Deutschland unbekannt sind – Filme, die in den 30er und 40er Jahren gedreht wurden. Sie zeichnen ein neues Bild der Alijah, der Auswanderung nach Israel.

Bitte erläutern Sie den Begriff für alle, denen er nicht geläufig ist.

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Alijah heißt eigentlich Aufstieg – in der Bibel bezieht er sich auf diejenigen, die nach Jerusalem aufstiegen an den hohen Feiertagen, in der jüdischen Tradition hat sich das verbunden mit dem Gedanken der Rückwanderung nach Eretz Israel, ins Land Israel. Es hat diese Bewegung, manchmal mehr, manchmal weniger, seit der Antike gegeben, und sie hat nichts mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem zu tun, wie es auf christlicher Seite in der Regel interpretiert wird. Das heißt, schon vor der Zerstörung des Tempels und danach hat es Einzelne und Gruppen in der jüdischen Diaspora im Mittelmeerraum gegeben, die eine Rückkehr nach Israel anstrebten.

Und die Bedeutung des Begriffs in der Moderne?

Aus diesem Gedanken heraus ist im 19. Jahrhundert durch die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen, vor allem durch das immense Anwachsen des Antisemitismus eine jüdische Nationalbewegung entstanden. Unter dem Eindruck der fürchterlichen Pogrome sollte im Land Israel etwas entstehen, was sich in Europa nicht realisieren ließ. Der Gedanke der Universität zu Köln, „100 Jahre Alijah“ zu würdigen, ist sehr überlegt, weil er deutlich macht, dass diese dem Wesen nach nicht mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt. Die Alijah ist sehr viel älter, und sie hält auch heute an, sie ist also nicht 1945 oder 1948 mit der Gründung des Staates Israel zu Ende.

Sie haben bereits Filme erwähnt, auf die Sie sich beziehen – wer hat diese gedreht?

Es handelt sich größtenteils um Material, das von deutsch-jüdischen oder österreich-jüdischen Emigranten und Vertriebenen aus dem Nazireich gedreht wurde und in vielem auf der Dokumentar- und Spielfilmtradition der Zwischenkriegszeit basiert. Die Filmemacher kamen aus Wien und Berlin, aus Würzburg, aus München und Hamburg, es waren erfahrene Leute darunter, andere waren ursprünglich Fotografen. Es sind Filme von Menschen, deren Namen man in Deutschland leider vergessen hat.

Wollten diese Filme auch für die Alijah werben?

Es sind einige Filme darunter, die völlig legal in Nazideutschland produziert worden sind. Die Naziführung war vor Kriegsbeginn daran interessiert, dass so viele Juden wie möglich aus Deutschland auswanderten. So hatten jüdische Organisationen die Genehmigung, in Deutschland Filme herzustellen. Einer dieser Filme wurde 1937/38 auch in Köln gezeigt.

Wie haben die Zuschauer reagiert?

Die jüdische Bevölkerung war ja in einer Zwangssituation, durch die Rassegesetze, durch die Berufsverbote, Arisierungen und die Vertreibung der jüdischen Schüler, Studierenden und Lehrkräfte. Es war eine ausweglose Situation, in der Auswanderung um jeden Preis – und es wurden sehr hohe finanzielle und moralische Preise erpresst – notwendig war. Und eine Möglichkeit bestand darin, mit Filmen visuelle Überzeugungsarbeit und Aufklärung zu leisten. Es gab in Berlin zum Beispiel eine Jugend-Alijah-Schule, auf der die Schüler auf die Einwanderung in Palästina vorbereitet wurden.

Nun hat die britische Mandatsmacht in Palästina die Alijah massiv behindert, gerade zu einer Zeit, da die freie Einwanderung bitter notwendig gewesen wäre.

Deswegen gab es neben der legalen Alijah auch eine illegale, um mehr Menschen zu retten. Legal waren zum Beispiel die Kindertransporte nach England, die Alijah hatte viele Routen, und die meisten Menschen, die gerettet werden konnte, gelangten über legale und zunehmend illegale Wege nach Palästina.

Kommt diese illegale Alijah in den Filmen auch vor?

Ja, und das ist das Besondere an dem Filmmaterial, und es freut mich besonders, das dem Publikum in Köln zeigen zu können. Ich habe Filme gefunden, die dokumentieren, wie die illegalen Wanderwege von Filmleuten begleitet wurden. Es gab diese mutigen Filmemacher, die davon überzeugt waren, dass man das festhalten muss. Diese Aufnahmen, die damals gemacht wurden, sind wirkliche Zeitzeugen.

Die Universität Köln reagiert mit dem Projekt „100 Jahre Alijah“ auch auf den aktuellen Antisemitismus. Nimmt dieser zu, oder artikuliert sich nun, was latent bereits vorhanden war, aber lieber verschwiegen wurde?

Es gibt diesen vehementen und eigentlich verstörenden Umschwung vom latenten in den manifesten Antisemitismus. Dadurch kommt es in fast allen europäischen Ländern zu einem sichtbaren, hörbaren und leider physisch spürbaren Antisemitismus. Wir befinden uns in einer Situation, die wir uns vor einigen Jahrzehnten niemals hätten vorstellen können – noch nicht einmal als Science-Fiction, als Dystopie. Der Antisemitismus ist massiv im Zentrum der Gesellschaft angekommen, er wird instrumentalisiert, in den Parlamenten, in den Medien – und zwar nicht bloß in Marginalmedien. Wir befinden uns an einer historischen Wegmarke, die die Entscheidung von Juden, nach 1945 in Deutschland zu leben, infrage stellt.

Es ist schwer, das knapp zu erklären – versuchen Sie es trotzdem!

Es ist in jedem Fall so, dass man nicht zu linearen Erklärungsversuchen neigen sollte. Man muss eine unwahrscheinlich große Zahl von Ursachen wirtschaftlicher, politischer, mentalitätsgeschichtlicher Natur zusammennehmen. Man muss aber auch fehlerhaft gezogene Lehren, die mangelhafte ernsthafte Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte betrachten, den Widerspruch zwischen Sonntagsreden und rassistischem Alltag. Die traditionellen Bilder, die Stereotypen und Klischees des traditionellen Antisemitismus kehren wieder. Der Kern des Antisemitismus in Europa heute ist nicht die Leugnung der Gaskammern. Es ist vielmehr die Rückkehr zu den traditionellen Ausprägungen des Antisemitismus noch vor dem Nationalsozialismus, insofern muss man sich intensiv neue Wege ausdenken, dies zu bekämpfen. Der gewöhnliche Antisemitismus ist vom Stammtischgeraune in die gutbürgerlichen Wohnzimmer gelangt. Ich finde, dass das Projekt der Uni Köln im bildungspolitischen Bereich einen wichtigen Beitrag in diesem Kampf leisten kann.

Sie beschäftigen sich mit den visuellen Ausprägungen des Antisemitismus. Können Sie diese Bildsprache näher charakterisieren?

Ein beliebtes Bild, das immer wiederkehrt, ist die Krake: Der Jude, der als Krake die Welt umspannt als Sinnbild der internationalen finanziellen, medialen oder politischen Verschwörung – das wird ständig aktualisiert. Goebbels würde heute sagen: Wunderbar, ich brauche ja gar keine Anweisungen mehr geben.

Wie beurteilen Sie die sogenannte Israelkritik? Die wird zum Beispiel von der Boykottbewegung BDS in Anspruch genommen.

Klar, ich bin ein großer Anhänger von Irankritik, Polenkritik, Ungarnkritik, ich finde, das ist – ironisch gesagt – unbedingt erforderlich! Die gibt es nur eben nicht! Israelkritik ist ein verklausulierter antisemitischer Begriff, der Eingang in die Medien gefunden hat. Kennen Sie den Begriff Deutschlandkritik? Ich bin gerne bereit zu sagen, wir müssen die Politik der israelischen Regierung diskutieren und kritisieren – das geschieht in Israel selbst in einem Maß, das schon beispielhaft ist für eine normale Demokratie. Aber im Begriff Israelkritik schwingt letztendlich mit, dass man die Legitimität der Existenz eines jüdischen Staates infrage stellt.

Projekt der Kölner Universität

Professor Frank Stern ist Kultur- und Filmwissenschaftler, langjähriger Leiter des Zentrums für Deutsche und Österreichische Studien an der Ben-Gurion-Universität in Be’er-Sheva, lehrt heute an der Universität Wien und ist Leiter des Jüdischen Filmclubs Wien. Seinen Vortrag hält er zum Auftakt einer Veranstaltungsreihe der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln – am heutigen Dienstag, 29. Januar, um 19.30 Uhr in der Gronewaldstraße 2. Das Projekt der Uni steht unter dem Gesamttitel „100 Jahre Alijah von Alumni der Universität zu Köln – Geschichten der Einwanderung nach Israel“. Es steht allen Interessierten offen, richtet sich vor dem Hintergrund eines wachsenden Antisemitismus an Schulen vor allem aber auch an Lehramtskandidaten. Martin Doerry liest am 2. Mai um 19.30 Uhr in der Gronewaldstraße 2 aus seinem Buch „Mein verwundetes Herz“. Die Veranstaltung ist eine Kooperation mit der Kaiserin-Augusta-Schule, dem Zentrum für LehrerInnenbildung und der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Julia Bernstein, Soziologieprofessorin in Frankfurt, stellt am 14. Mai um 18 Uhr „Aktuelle Befunde zu Antisemitismus in Schulen“ vor. Am 13. November hält Gudrun Hentges von der Uni Köln ein Abschlusssymposion. (F.O.)

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