„Himmelschreiendes Missmanagement”Medizinhistoriker kritisiert Umgang mit Coronakrise

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Frauen mit Mundschutzmasken in Vorbereitung auf die Spanische Grippe im australischen Brisbane 1919.

Frauen mit Mundschutzmasken in Vorbereitung auf die Spanische Grippe im australischen Brisbane 1919.

  • Medizinisch gesehen wurde die Spanische Grippe laut Medizinhistoriker Harald Salfellner zur großen Lehrmeisterin. Die Virologie sei im Wesentlichen erst aus der Influenzapandemie heraus entstanden.
  • Die nötigen Schlüsse seien nicht gezogen worden: „Obwohl man mit einer solchen Pandemie rechnen musste, war die Vorbereitung ungenügend."
  • Der Globalisierungswahn habe offenkundig verdrängte Risiken und Nebenwirkungen.

Herr Salfellner, an die Spanische Grippe vor 100 Jahren mit bis zu 50 Millionen Toten mag man in diesen Tagen gar nicht denken. Sie haben sich ausdrücklich auf dieses Thema gestürzt. Warum?

Ich bin Mediziner, Historiker und Literaturfreund. So wurde ich auf die Spanische Grippe aufmerksam, weil mich jemand nach Franz Kafka und den Hintergründen seiner Grippe-Erkrankung 1918 fragte. Als ich mich näher informieren wollte, stellte ich fest: Es gab so gut wie keine Fachliteratur dazu, und die Publikumstitel stützen sich alle auf die amerikanische Erzählung – wie die vom Patienten 0, einem Koch in einem amerikanischen Militärlager, der im März 1918 als erster diese merkwürdige Krankheit bekam … Das sind alles nur schöne Sagen, aber es klingt so gut, und man merkt es sich so leicht.

Welchen Reim machen Sie sich darauf, dass die Erinnerung an die Spanische Grippe trotz der hohen Opferzahlen so wenig präsent war?

Der Mensch neigt immer zum Vergessen. Aber hier spielte der Zeitpunkt der Epidemie eine besondere Rolle: Der Erste Weltkrieg war zu Ende, die Menschen hatten so viel Leid erfahren und wollten das alles schnell hinter sich lassen. Dazu kommt ein völlig anderer Umgang mit dem Tod: Das Sterben, auch das Massensterben, war viel gegenwärtiger. Es wurde erlitten und hingenommen. Das ist ausdrücklich kein moralisches Urteil, sondern ein mentalitätsgeschichtliches. Es ist auch im Spiegel der damaligen Medien zu sehen. Selbst auf dem Höhepunkt der Epidemie, als die Leichenwagen unablässig durch die Straßen rumpelten, ging es über eine Zeitungsspalte selten hinaus. Und Bilder gab es überhaupt keine.

Können wir Lehren aus der Spanischen Grippe ziehen?

Dass staatliche Macht etwas ist, das zum Wohl der Bürger funktionieren muss. Die Spanische Grippe fiel in eine Zeit der politischen Auflösung und Anarchie. Noch während der ersten Hauptwelle endete der Erste Weltkrieg, in Deutschland und in Österreich-Ungarn kam es zu einem Umsturz der politischen Verhältnisse. So bildete die Spanische Grippe eine Art Puffer zwischen den Zeiten. Eine irgendwie nennenswerte Regierungsgewalt gab es nicht mehr, die sich als Bändiger der Katastrophe hätte betätigen können. Die Menschen mussten sehen, dass sie allein klarkommen. Man hat die Grippe – hart gesagt – wüten lassen. Im Wissen, irgendwann ist es vorbei.

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Dabei ist es ja nicht geblieben.

Nein. Medizinisch gesehen wurde die Spanische Grippe zur großen Lehrmeisterin. Die Virologie entstand im Wesentlichen erst aus der Influenzapandemie heraus. Die Suche nach dem Erreger führte zu neuen mikrobiologischen Erkenntnissen, die schließlich in den 1940er Jahren erste Impfprogramme ermöglichten. Sie war aber auch die Pandemie, die der Epidemiologie entscheidendes Studienmaterial lieferte. Die milden Pandemien 1957, 1968 oder 2009 haben hier nichts Vergleichbares bieten können. Der deutsch-amerikanische Virologen Jeffery Taubenberger sagte: Die Spanische Grippe wurde zur Mutter aller Pandemien. Das Coronavirus unterscheidet sich vom Influenzavirus wesentlich – aber die epidemiologischen Verläufe, die Verbreitung der Seuche, all das könnte nach vergleichbaren Kriterien wie 1918 geschehen.

Hat sich das auf den Umgang mit der Corona-Krise ausgewirkt?

Da hat man leider nichts oder jedenfalls nicht viel gelernt. Obwohl man mit einer solchen Pandemie rechnen musste, war die Vorbereitung ungenügend. Seit der Spanischen Grippe konnte in der Fachwelt kein Zweifel sein, dass schwere Pandemien ein reales Bedrohungsszenario darstellen. Das hätte man sich auch die Gesundheitspolitik klarmachen müssen. Jetzt müssen wir uns trotz eines milliardenschweren Gesundheitssystems den Mund-Nasen-Schutz selber nähen. Dieses Fehlen banalster Hilfsmittel ist völlig unverständlich, zumal wenn man bedenkt, wie viel Geld und Arbeit in das Erstellen von Pandemieplänen geflossen sind.

Immerhin gab es sie.

Ja, aber wenn man sich mit den psychosozialen Mechanismen der Spanischen Grippe befasst hätte, dann hätte man die Pandemie-Pläne nicht zu Orgien des Bürokratismus machen müssen. Ich habe mir sehr viele davon angeschaut – ein Wust von theoretischem Gesülze ohne Rückbindung an die Praxis. In Österreich etwa wurden wegen des Coronavirus kurzerhand die Grenzen geschlossen. Eine Woche später zeigte sich, dass im ganzen Land die Altenpflege zu kollabieren drohte, weil diese Tätigkeit längst von Arbeitskräften aus der Slowakei, Ungarn oder Rumänien verrichtet wird. Das ist doch ein himmelschreiendes Missmanagement. Wenn man sich komplett abschottet, dann muss man doch ansatzweise bedenken, welche Folgen das hat.

Ein vernichtendes Urteil!

Der Globalisierungswahn hat offenkundig verdrängte Risiken und Nebenwirkungen. Die akute Reaktion einer kompletten Renationalisierung mit geschlossenen Grenzen und Maskenkauf nach Eigenbedarf ist natürlich genauso maßlos – aber ein zu erwartender Ausschlag des Pendels in die Gegenrichtung. Seit dem Mittelalter folgen Seuchen dem gleichen sozialpsychologischen Muster: Die Krankheit bricht aus, man wird ihr nicht Herr, das öffentliche Leben bricht zusammen, es kommt Panik auf, und nicht selten kommt es zu Ausschweifungen – und ganz am Schluss steht die Frage: Wer war schuld an der Misere?

Wie soll man diese Frage denn beantworten?

In psychosozialer Hinsicht ist die Antwort auch heute unglaublich wichtig. Nicht als Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Krankheit. Das ist Unsinn – und hat in der Geschichte bekanntlich zu schrecklichen Auswüchsen geführt, indem man Juden für Seuchen verantwortlich machte. Aber der Kampf um Deutungshoheiten hat ja schon eingesetzt. Vor 100 Jahren wurde er von den Rudimenten der Staatsmacht mit Zensurmaßnahmen geführt. Heute kämpfen Staat und seriöse Wissenschaft gegen Gerüchte – von Verschwörungstheorien bis zu Falscheinschätzungen zur Pandemie.

Da geht es aber nicht so sehr um eine Schuld-Diskussion, deren Aufkommen Sie prognostizieren.

Die Frage nach der Vorbereitung auf eine solche Pandemie und nach dem Krisenmanagement, die wird kommen. Das wird hart werden. Vielleicht kommen wir mit Corona noch irgendwie halbwegs über die Runden. Das wird aber nichts daran ändern, dass uns danach die nächste Grippe-Pandemie droht – vielleicht schon 2021 oder erst 2030 – und dass sie unter sehr unglücklichen Umständen erheblich mehr Opfer fordern könnte als die Corona-Pandemie bisher. So wie es im Fall der Pandemie vor hundert Jahren auch war.

Zur Person

Harald Salfellner, geboren 1962, stammt aus Österreich und ist Arzt und Medizinhistoriker. Er lebt seit 1989 als Autor und Verleger in Prag. Seine Bücher zur böhmisch-österreichischen Kulturgeschichte sind in einer Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren verbreitet, darunter die in acht Sprachen übersetzte Schriftstellermonografie „Franz Kafka und Prag“. Salfellner arbeitet seit vielen Jahren an der Erforschung der Spanischen Grippe in Mitteleuropa. Hierzu erschien von ihm: „Die Spanische Grippe - Eine Geschichte der Pandemie von 1918“ (Vitalis-Verlag). (jf)

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