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Ehefrau von inhaftiertem Blogger Raif Badawi„Nicht jeder Mensch wird frei geboren“

Lesezeit 6 Minuten
Ensaf Haidar kämpft für ihren inhaftierten Mann Raif Badawi. Inzwischen ist sie selbst international bekannt.

Ensaf Haidar kämpft für ihren inhaftierten Mann Raif Badawi. Inzwischen ist sie selbst international bekannt.

Köln – Die Dolmetscherin fällt Ensaf Haidar in der Lobby des Hotels um den Hals und hört in den nächsten zwei Stunden nicht auf, zu strahlen: „Ensaf ist eine Heldin für mich und für sehr viele Frauen aus Saudi Arabien“, sagt sie. Ensaf Haidar ist die Ehefrau von Raif Badawi, dessen Fall weltweit bekannt wurde, als er im Jahr 2015 öffentlich ausgepeitscht wurde und ein Video der Folter im Internet landete.

Badawi hatte in Saudi Arabien einen Blog gegründet, in dem er für Gleichberechtigung, Meinungs- und Religionsfreiheit eintrat. Lange wurde das Forum vom saudi-arabischen Regime toleriert – als Badawis Vater seinen Sohn in Fernsehsendungen diffamierte und öffentlich seinen Tod forderte, wurde er im Jahr 2012 inhaftiert. Zwei Jahre später wurde er angeklagt und zu zehn Jahren Haft und tausend Peitschenhieben verurteilt. Haidar lebt mit den drei gemeinsamen Kindern im kanadischen Exil. Inzwischen ist sie als Menschenrechtlerin selbst international bekannt. Am Freitag nahm sie in Köln für ihren Mann den Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik entgegen.

Ihr Mann ist seit sieben Jahren im Gefängnis. Wie geht es ihm?

Ensaf Haidar: Wenn er mit uns telefoniert, versucht er, zuversichtlich zu wirken, fragt vor allem nach den Kindern. Aber natürlich gehen sieben Jahre Haft nicht spurlos an ihm vorbei. Er ist in einer Zelle mit 20 oder 30 Menschen, er sieht nur selten das Sonnenlicht, das Essen ist nicht ausgewogen. Manchmal hat er Hoffnung, manchmal nicht. Wir telefonieren zwei- bis dreimal im Monat für fünf Minuten, aber natürlich werden alle Gespräche überwacht.

Können Sie etwas über die Haftumstände sagen?

Raif sagt, dass er abgenommen habe – und das ist nicht gut, weil er ohnehin sehr dünn war. Ansonsten kann ich nichts darüber sagen. Gut ist, dass er keine Peitschenhiebe mehr bekommen hat, seit dieses furchtbare Video im Internet veröffentlicht wurde. Ich hoffe, dass das so bleibt.

Infolge des Videos gab es eine internationale Welle der Solidarität – auch viele Politiker haben sich für Ihren Mann eingesetzt. Was hat die Solidarität bewirkt?

Raif ist zu einem Symbol für Menschenrechte und den Ruf nach Freiheit in Saudi Arabien geworden – die weltweiten Forderungen, ihn freizulassen, sind gleichbedeutend mit dem Ruf nach Freiheit für das ganze Land. Als das Video öffentlich gemacht wurde, war das allerdings einer der schwersten Momente in meinem Leben.

Die Dolmetscherin bricht in Tränen aus

Haidars Stimme stockt, als sie weitererzählt, die Dolmetscherin bricht in Tränen aus. Die Kinder von Haidar und Badawi wussten noch im Exil nichts von der Inhaftierung ihres Vaters, bis das Folter-Video durch die Welt ging und die Mutter entschied, dass sie ihren Kindern nun die Wahrheit sagen müsse. Die Nachricht, dass ihr Vater im Gefängnis ist und geschlagen wird, hat die Kinder, heute 15, 14 und elf Jahre alt, traumatisiert. Haidar muss sich sammeln, bevor sie weiterspricht – eigentlich wollte sie gar nicht über ihre Familie sprechen.

„Nachdem ich meinen Kindern gesagt hatte, dass Papa im Gefängnis ist und dort auch einmal geschlagen wurde, wollte mein kleiner Sohn ein Video drehen und darin sagen, dass die Herrscher seinen Papa sofort freilassen sollen. Dass er sonst sehr wütend werde und zur Not auch Menschen hauen werde.“

Sie trafen sich heimlich

Ensaf Haidar und Raif Badawi haben sich heimlich kennengelernt und ineinander verliebt, was in Saudi Arabien äußerst selten und sehr gefährlich ist. Mit viel Glück und der Hilfe von Verwandten konnten sie schließlich heiraten. Mit dem Start des Internetforums wurden die Behörden auf das Paar aufmerksam. Als Raif Badawi noch frei war, aber nicht mehr sicher, lebte Ensaf Haidar mit den Kindern zwischenzeitlich im Libanon und in Ägypten. Eine Rückkehr nach Saudi Arabien ist für sie ausgeschlossen.

Wie hat sich Ihr Leben verändert, seit sie in Kanada sind?

Die Kanadier haben mir das Gefühl gegeben, ein eigenständiger, freier Mensch zu sein. Ich lebe seitdem mehr denn je für Raif, reise viel, halte Vorträge, gebe Interviews. Ab und an erhalten wir eine Ehrung – was sehr wichtig ist, damit der Fall von Raif nicht vergessen wird. Es gibt keine Worte, die beschreiben können, wie ich mich fühle. Ich bin sehr müde, aber ich kämpfe weiter für Raif. In Kanada fragen die Menschen, was Raif denn getan habe. Einen Blog geschrieben, über ein freies Leben, über Rechte für alle? Die Kanadier verstehen das nicht. Sie verstehen nicht, dass nicht jeder Mensch frei geboren wird. Ich verstehe es auch bis heute nicht: Raif hat nichts Verbotenes getan, nie.

In drei Jahren könnte Ihr Mann freikommen, dürfte dann aber zehn Jahre lang nicht ausreisen. Worin begründet sich Ihre Hoffnung, ihn wiederzusehen?

Ich hoffe auf eine Liberalisierung in Saudi Arabien, und glaube an die Solidarität. Ich glaube sogar, dass wir Raif früher wiedersehen werden, ich glaube fest daran, das sagt mir mein Gefühl.

Kein Kontakt zur Familie

Ihre Familie hat sich von Ensaf Haidar abgewendet, weil sie mit Badawi nach der Verurteilung zusammenblieb. Immer wieder ist die 34-Jährige bedroht worden. Darüber spricht sie genauso wenig wie über die Inhaftierung von Raifs Schwester Samar, die im Sommer 2018 diplomatische Spannungen zwischen Saudi Arabien und Kanada auslöste. Auch auf die politische Situation in Saudi Arabien will sie nicht eingehen. Allein im April waren dort 37 Menschen hingerichtet worden, darunter mutmaßlich Minderjährige. Sie hoffe auf kleine Schritte einer Liberalisierung, sagt sie. Immerhin dürften Frauen in Saudi Arabien seit einem Jahr Auto fahren und Fußballspiele besuchen. Man merkt, dass sie gern mehr sagen würde als das, was sie zum Abschied sagt: „Ich möchte, dass die ganze Welt sich dafür einsetzt, dass Raif frei kommt. Es wäre ein Sieg für die Freiheit.“

„Zeichen gegen das Verschweigen und Vernichten“

Der Blogger Raif Badawi und das „European Journalism Observatory“ (EJO) haben am Freitag im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks den Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik erhalten. Badawi hat sich in Saudi-Arabien mit einem Internet-Portal „Die Saudischen Liberalen“ für Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und die Trennung von Staat und Religion eingesetzt. Er wurde am 17. Juni 2012 verhaftet, ein islamisches Rechtsgutachten erklärte ihn zu einem „Ungläubigen“, da er Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig bezeichnet hatte. 2014 verurteilte man ihn zu zehn Jahren Haft und tausend Peitschenhieben.

Es gehe um ein „Zeichen gegen das Verschweigen, das Vergessen und Vernichten. Denn um Raif Badawi ist es zu leise geworden“, sagte Günter Wallraff, der erstmals seit seinem schweren Fahrradunfall vor zwei Monaten öffentlich auftrat, in seiner Laudatio: „Es wird noch leiser, wenn die Herrscher der saudischen Diktatur ihn umbringen.“ Wallraff würdigte Badawi als Bürger- und Frauenrechtler, der klarmache, dass „die Rechtlosigkeit in Saudi-Arabien und auch in anderen islamischen Regimen ganz wesentlich auf der Unterdrückung der Frauen und der Kinder basiert“. Seine Frau Ensaf Haidar, die mit den drei gemeinsamen Kindern im kanadischen Exil lebt, nahm den Preis für ihren Mann entgegen. Das Europäische Journalismus-Observatorium beobachtet und vergleicht Journalismus-Kulturen in Europa und den USA. Es will damit die Qualität im Journalismus stärken und zu einem internationalen objektiven Informationsaustausch beitragen. Das EJO gilt einzigartig in seiner Funktion als Brückenbauer zwischen den Journalisten und dem Journalismus in Europa. (uk)

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