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„Polizeiruf: Kindeswohl“-KritikWenn aggressive Jugendliche abgeschoben werden

Lesezeit 3 Minuten
Polizeiruf Kindeswohl

Betreuer Stig (Matthias Weidenhöfer, l-r) trifft auf Keno (Junis Marlon) und Samuel (Jack Owen Berglund)

Der Fall:

Der Jugendliche Keno (gespielt von Junis Marlon) ist außer Kontrolle. Das Jugendamt hat den hochaggressiven Jungen aus seinem mehr als problematischen Elternhaus in eine Einrichtung für verhaltensauffällige Jugendliche im Umland Rostocks gesteckt. Die Erzieher verfolgen eine gegenläufige Strategie, wie mit den schwierigen Jugendlichen umzugehen ist. Eine Mitarbeiterin versucht es mit Milde, andere, darunter der Leiter des Hauses, mit Härte und Strafe. In seiner Freizeit baut Keno allerhand Mist - begleitet von Samuel (Jack Owen Berglund), der ausgerechnet der Sohn von Kommissar Alexander Bukow (Charly Hübner) ist.

Keno möchte dem Jugendheim entfliehen und zu Fuß zu seinem Bruder, der in einer Pflegefamilie in Polen lebt. Der ist dort mehr als unglücklich, muss Feldarbeit verrichten und hat schon einen Selbstmordversuch hinter sich. Samuel begleitet ihn auch bei diesem Trip. Im Wald treffen sie auf den joggenden Einrichtungsleiter. Keno erschießt ihn mit einer gestohlenen Pistole. Bukow und Katrin König (Anneke Kim Sarnau) ermitteln, schnell wird klar, das es Keno war - und Samuel bei ihm ist. Getrieben von der Sorge, dass sein Sohn mit einem unberechenbaren, bewaffneten Intensivtäter unterwegs ist, machen sich die Kommissare auf die Verfolgung.

Die Auflösung:

Der Showdown vollzieht sich bei den polnischen Pflegeeltern. Sie leben in einem heruntergekommen Gehöft. Den Drehort hat Regisseur Lars Jessen im Dörfchen Legi im Nichts des nordpolnischen Hinterlands gefunden. Die Gebäude sehen so trist aus, als seien die Deutschen 1945 gerade vor den Russen geflohen. Jedenfalls erreichen Keno und Samuel tatsächlich den Hof. Doch sein Bruder hatte kurz zuvor einen bizarren Selbstmord begangen. Er hatte sich unbemerkt hinter das Hinterrad des Autos seines Pflegevaters gelegt. Als der losfährt, erfährt der geneigte Zuschauer mit einem dezenten "knack" was da nun schauderhaftes geschehen ist. Die Kommissare finden ebenfalls den polnischen Hof. Und zwar rechtzeitig, bevor Keno noch weitere Menschen erschießt (was durchaus drohte) oder anderweitig jemand zu Schaden kommt.

Zynischster Moment:

Die heillos überforderte Dame im Jugendamt, in dem im Zehnsekundentakt das Telefon klingelt, rechtfertigt die Praxis, über einen Trägerverein Kinder ins osteuropäische Ausland zu vermitteln, wo sie die deutschen Behörden weniger kosten, mit dem Satz: "Autokonzerne verlegen ihre Produktion doch auch nach Tschechien."

Köln-"Tatort"-Reminiszenz:

Kommissarin König trinkt an einer Hamburger-Bude Weißwein aus einem Weinglas. Das ist so, als wenn die Kölner Kommissare Ballauf und Schenk an der Wurstbude gezapftes Kölsch trinken: Äußerst unwahrscheinlich, dass man an einem frittenfetttriefenden Imbiss-Anhänger Gläser bekommt. Oder überhaupt bekommen will.

Fazit:

Ein Polizeiruf, der eine Stunde Anlauf benötigt. Die rechte Spannung will irgendwie nicht aufkommen, man hat auf sonderbare Weise das Gefühl, dass am Ende doch eh alles gut wird. Zu dominant ist Kommissar Bukows Sorge um seinen Sohn und sein massiv knurriger Umgang mit seinen Ängsten. Der Zuschauer leidet eher mit ihm als mit dem Mordfall und dem Trip der beiden Jungen mitzufiebern. Die schauspielerischen Leistungen sind indes ausnahmslos hervorragend.

Gelungen ist die Ratlosigkeit der Beteiligten, wie man mit extrem aggressiven Jugendlichen umgehen soll. Bestrafen? Therapieren? Wie führt man sie zurück in eine Gesellschaft, die sie verachten und von der sie umgekehrt oft ebenfalls verachtet werden? Ist das überhaupt möglich? Der Polizeiruf hat darauf ebenso wenig Antworten, wie Jugendämter und Sozialarbeiter in der Wirklichkeit, die verzweifelt Auswege suchen. Und sollte es tatsächlich eine Art Abschiebe-Kultur von Jugendämtern geben, die schwer erziehbare Jugendliche aus Kostengründen und Personalknappheit nach Osteuropa vermittelt, wo sie als billige Arbeitskräfte auf Feldern schuften, sollte darüber dringend in einer Zeitung berichtet werden, damit das aufhört.

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