„Remix“ auf der lit.CologneGedichte zum Weinen schön

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frier und kessler lit

Annette Frier mit Michael Kessler beim „Remix 3“

Köln – „Walle! Walle / manche Strecke…“ Erste Assoziation bei diesem Vers? Bildungsgut. Deutsch-Unterricht. Gedicht-Interpretation, mehr oder weniger bemüht und meist ziemlich verzopft.

Nicht so beim „Remix“ auf der lit.Cologne: Schon zum dritten Mal präsentieren Annette Frier und – mit einem Auftritt weniger – Michael Kessler Texte junger Menschen mit Behinderung, inspiriert von Klassikern der Weltliteratur.

Eine Reihe mit Kultstatus

Nicht von ungefähr hat die Reihe unterdessen Kultstatus erlangt: Mit welcher Frische, überbordender Fantasie, Bilderreichtum und auch existenzieller Tiefe die zwölf jungen Autorinnen und Autorinnen die vermeintlich alten Schinken behandeln, das will man schon nach der ersten Runde dieses höchst kurzweilen Potpourris auf gar keinen Fall verpassen.

„Du verrückter Bro“, spricht Samuel Kress den Besen an, der in Goethes „Zauberlehrling“ aus dem Ruder läuft. „OMG, Scheiße Mann / seh ich doppelt / ist es Geisterhand? Fuck, ich fluche / mit klarem Verstand!“, so klingt es 225 Jahre nach Goethe. Und auf einmal fällt es ganz leicht, sich den Zauberlehrling 2.0 vorzustellen, der „nach ner Hausparty“ mit Hilfe von Magie „die Bude putzen“ will.

Workshop des Kölner Vereins „Mittendrin“

In einem mehrtägigen Workshop in Kooperation mit dem Kölner Verein „Mittendrin“, dem Inklusion seit Jahren ein Anliegen ist, hat Poetry Slammer Florian Cieslik mit den Autorinnen und Autorinnen die Gedichte und kleinen Geschichten erarbeitet, die Frier und Kessler mit großartigem, einfühlsamem Vortrag zusätzlich funkeln lassen.

annette frier lit.cologne

Annette Frier

Aus Antoine de Saint-Exupérys kleinem Prinzen wird bei Selma Winterling ein „kleiner Regenbogenprinz“, der „in allen Regenbogenfarben meiner eigenen Gefühle schillert“: Rot steht für Freude, Orange für Wohlfühlen, Lila für Happy sein. Als den Regenbogenprinzen eines Morgens eine Farben-„Falschbestellung“ von Selma erreicht und sie damit ein „Gefühlsfarbchaos“ mit „Farbmischsalat“ anrichtet, da kippt der Prinz ihr grinsend einen Gefühlsfarbeimer über den Kopf: Trauer tropft am Bein herunter, Freude fließt über den Kopf…

Was für ein Gestaltungswille!

Was für ein Gestaltungswille der jungen Autorin! Was für eine Direktheit in der Beschreibung, wie es ist, wenn auf einmal sämtliche Emotionen durcheinandergeraten! „Also, wenn es euch mal genauso geht, dann bestellt euch einfach neue Farben beim Regenbogenprinzen! Die sind nämlich alle in euch, ihr müsst sie euch einfach nur wünschen.“

Schillers „Ode an die Freude“ animiert Paula Sander zu einem Sommertraum von sich selbst: „Ich bin eine Frau wie ein Schwan, der bei der Hitze im Meer schwimmt. Und am Abend gucken wir einen Film, und Köln hat auch noch gewonnen.“

Als ob Schillers Ode Gestalt angenommen hätte

Paula träumt auch von ihrer toten Oma, die ihr so viel Kraft gab und Mut und Selbstbewusstsein. „Ich bin eine Fee, eine Schönheit. Ich bin wie alle tollen Frauen ein tolles Mädchen. Ich möchte selbst etwas machen, etwas schaffen. Wie im Traum.“

Mit roten Wangen sitzt Paula Sander zu Friers und Kesslers Füßen und strahlt und strahlt – als ob Schillers Ode auf der Bühne der ausverkauften Mülheimer Stadthalle Gestalt angenommen hätte.

Eichendorff und Schumi

Wer hätte gedacht, dass Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“ einmal Anlass geben würde, Michael Schumacher dabei zuzusehen, wie er 2003 nachts „an seinem Auto rumtüftelt“? Schumacher-Fan Florian Prager träumt, dass sein Herzfehler weg ist, den er als Baby hatte, und er verrät, dass Schumi der Grund ist, „warum ich immer kämpfe, auch wenn es schwer ist, dass ich seinetwegen nie aufgebe, auch wenn das Rennen aussichtslos erscheint. Dass ich immer gute Laune habe, auch wenn mir nach Heulen zumute ist.“

Michael Kessler lit.cologne

Michael Kessler

So manchem Gast dieser berührenden Hommage an die Literatur und das Leben ist da selbst zum Weinen zumute.

Burleske Momente

Doch gibt es auch zum Lachen Anlass – etwa mit David Extras „Shisha-Bar-Trilogie“ oder Rose Berliks burlesk-frechem Weiterdreh von Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“, einem eigenen „Stück der Weltliteratur“, wie Kessler hintersinnig feststellt.

Zum Finale lässt wiederum Samuel Kress in seinem Tagebuch vom Mittendrin-Workshop eine schäumende Kaskade von Assoziationen und metaphorischen Verknüpfungen sprudeln. Tosender Applaus und Begeisterung – im Publikum ebenso wie auf der Bühne bei den sichtlich beseelten Jung-Literaten und ihren beiden Rezitatoren.

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Ein unvergesslicher Abend wie zur Illustration von Ernst Jandls „Bibliothek“:

die vielen buchstaben die nicht aus ihren wörtern kennen

die vielen wörter die nicht aus ihren sätzen können

die vielen sätze die nicht aus ihren büchern können

die vielen bücher mit dem vielen staub darauf

die gute putzfrau mit dem staubwedel

Mit dem „Remix“ hat die lit.Cologne gezeigt, dass es nur darauf ankommt, den Staubwedel in die richtigen Hände zu geben – und sofort purzeln die Wörter und Sätze und Bücher. Mitten ins Leben.

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