„Schreiben nach Hören“NRW-Bildungsministerin zweifelt Methode an

Lesezeit 4 Minuten
Ein Brief an Mama und Papa. Ob sie ihn so ganz verstehen?

Ein Brief an Mama und Papa. Ob sie ihn so ganz verstehen?

Köln – Schreib, wie Du sprichst. Oder auch: Schreibe nach Gehör. Heutige Grundschüler erlernen das Schreiben nach einer Methode, die Kritiker eher als Absage an jegliche Methode verwerfen.

Der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen ist der Vater dieses Konzepts, das er unter den größeren Leitsatz „Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden“ stellte. Schon Bildungsreformer der 1920er Jahre wie Gustav Nagel forderten eine Überarbeitung der Rechtschreib-Didaktik: „schreib wi du sprichst!“

Es steht den Schulen frei, wie sie ihren Schülern Lesen und Schreiben beibringen

Im nordrhein-westfälischen Bildungsministerium unter der Führung von Yvonne Gebauer (FDP) werden derzeit Informationen zusammengetragen, wie die Rechtschreibung in anderen Bundesländern gelehrt wird. Die neue Schulministerin nämlich bewertet Reichens Konzept ebenfalls kritisch, auch wenn, wie ihr Sprecher Daniel Kölle sagt, gar keine Vorschrift dessen Anwendung durchsetzt. Es steht den Schulen frei, wie sie ihren Schülern Lesen und Schreiben beibringen – an ein Verbot des derzeitigen Verfahrens sei bislang jedoch nicht gedacht.

In den Hinweisen der Qualitäts- und Unterstützungsagentur „Landesinstitut für Schule“ heißt es derzeit im Hinblick auf den Deutschunterricht in der Grundschule: „Sprachliches Lernen, auch solches im Bereich des Lesen-, Schreiben- und Rechtschreiben-Lernens, ist in diesem Alter von Natur aus eigenaktiv und weitgehend selbstorganisiert, und die Kinder können im kompetenzorientierten Unterricht dort abgeholt werden, wo sie sind.“

Geister der Forschung scheiden sich

Im Lehrplan wird festgehalten, dass die Schüler nach der zweiten Klasse „erste Rechtschreibmuster“ anwenden sollen und nach der vierten Klasse „grundlegende Regelungen der Rechtschreibung“ kennen und diese auch nutzen. Mit anderen Worten: Die Methode „Schreiben nach Gehör“ gilt allenfalls für die Schulanfänger – noch während der Grundschulzeit sollen dann aber die orthografischen Regeln eingeübt werden.

Wolfgang Steinig von der Universität Siegen hat einen großen Teil seines akademischen Lebens darauf verwendet, sich mit der Problematik zu beschäftigen. Bereits 1972 hat er eine Langzeitstudie begonnen, die in den Jahren 2002 und 2012 an den gleichen Grundschulen im Ruhrgebiet wiederholt wurde. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht, es gebe keine Studien zur Problematik, liegen sehr wohl belastbare Ergebnisse vor.

Yvonne Gebauer

„Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass der Rechtschreibkompetenz wieder mehr Bedeutung beigemessen werden muss. Die Methode ’Lesen durch Schreiben’ hat in der Vergangenheit nicht selten zu Irritationen bei Lehrern, Eltern und Schülern geführt. Gleichwohl kann sie zu Beginn des Schreibenlernens sinnvoll sein, um Kinder an das Schreiben heranzuführen und sie zu motivieren. Über das erste Schuljahr hinaus aber halte ich sie persönlich nicht für zielführend.“

Doch die Geister der Forschung scheiden sich. Erika Brinkmann, Professorin für deutsche Sprache, Literatur und Didaktik äußert im „Familien-Handbuch“ zwar Verständnis, macht sich aber keine Sorgen: „Die Sorge vieler Eltern, dass sich die Kinder mit ihren lautgerechten Schreibungen, die noch nicht allen orthografischen Normen entsprechen, etwas Falsches einprägen könnten, ist meines Erachtens verständlich, aber unbegründet.“

Sie erklärte: „Beim lautierenden Schreiben konstruieren die Kinder jedes Wort jedes Mal Laut für Laut neu. Dass sich dabei diese Schreibungen nicht in den Köpfen der Kinder festsetzen, belegen eindrucksvoll die Variationen, die die Kinder immer wieder finden: Oftmals wird das gleiche Wort in kurzer Zeit mehrfach unterschiedlich geschrieben.“

Ganz anderer Meinung ist Renate Valtin, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben: „Alle empirischen Untersuchungen hierzu sind eindeutig negativ. Deshalb sollte man diese Methode verbieten. Sie setzt auch voraus, dass Kinder über eine hochdeutsche Aussprache und über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügen.

„Reichen-Methode ein Risikofaktor“

Aber schon Kinder, die Dialekt sprechen, sind im Nachteil.“ Sie verweist auch auf die Schwierigkeiten für Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund beziehungsweise geringen deutschen Sprachkenntnissen, die immer häufiger deutsche Schulen besuchen. Für sie sei „ die Reichen-Methode ein Risikofaktor.“

Während die Meinungen in der Forschung höchst unterschiedlich ausfallen, sind die vieler Eltern recht deutlich. In Internet-Foren lässt sich viel Wut zu diesem Thema finden. So schimpfen Mütter und Väter auf Lehrpläne und Lernmethoden und werfen Lehrern vor, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.

Eine Mutter beschreibt, wie sie nun selbst die Rechtschreiblücken ihres Sohnes in der 5. Klasse – der nach ihren Angaben keine 100 Wörter ohne mindestens 30 Fehler schreiben kann – ausradieren muss. „Lernen gehört aber nicht nach Hause, sondern in die Schule,“ meint sie.

KStA abonnieren