Ulla Hahn im Interview„Das Schreiben ist eine Befreiung“

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Schriftstellerin Ulla Hahn

Schriftstellerin Ulla Hahn

Köln – Frau Hahn, in Ihrem neuen Roman "Spiel der Zeit" unterscheiden Sie genau zwischen der Autorin Ulla Hahn und der Protagonistin Hilla Palm. Wie viel Ulla steckt denn eigentlich in Hilla?

ULLA HAHN Eine ganze Menge. Aber bitte nie vergessen: Ich habe einen Roman und keine Autobiografie geschrieben. Jeder weiß, wie Erinnerung funktioniert und wie trügerisch sie sein kann. Gerade beim Schreiben dieses Romans habe ich dazu interessante Erfahrungen gemacht. Es gibt zum Beispiel eine Szene, in der ein Kölner Professor mit Teerbeuteln wirft, weil die Studenten die Uni verrammelt haben. Ich war 100-prozentig sicher, dass an diesem Tag an der Fassade der Kölner Uni ein weißes Laken hing mit der Aufschrift "Rosa-Luxemburg-Universität". Stimmt aber nicht. Die Demonstranten hatten die Buchstaben direkt auf die Wand gepinselt. Aber im Ganzen sind Ulla und Hilla ziemlich deckungsgleich. Auch die Mitglieder der Familie Palm sind nahe an der Realität.

HAHN Indem ich private Erfahrungen literarisch geformt zur Sprache bringe, rücke ich sie von mir ab, mache sie allgemein, öffentlich. Und das ist nur dann eine Herausforderung für mich, wenn ich an Grenzen gehe, also dahin, wo es schmerzt. Ich erfahre das Schreiben gerade dieser Bücher zunehmend als Befreiung. Beim Tagebuchschreiben kann man Ähnliches erleben: sich etwas von der Seele reden, heißt es ja. Was aber meine Mitmenschen betrifft, da gibt es Grenzen. Ich würde zum Beispiel nie über eine bestehende Beziehung schreiben, sei es über meine eigene oder die von Freunden. Das ist tabu. Übrigens auch nicht über Erfreuliches. Als ich nach vielen Jahren wieder einen Garten hatte, den ich sehr liebte, habe ich einen ganzen Gedichtband darüber geschrieben. Danach war mir der Garten beinah gleichgültig. Ich hatte ihn buchstäblich zur Sprache gebracht.

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Wie viel Kraft hat es Sie gekostet, sich Ihren Erinnerung zu stellen?

HAHN Viel, und es geht nicht ohne Pausen. Wenn ich schreibe, tauche ich ein halbes oder dreiviertel Jahr komplett weg. Meine Freunde wissen: Ulla ist wieder im Tunnel. Ich lebe dann mehr oder weniger in und mit meinen Figuren.

In diesem dritten Band stehen Sie Ihren Eltern zunehmend versöhnlich gegenüber. Eine Folge Ihrer inneren Befreiung?

HAHN Auf jeden Fall. Natürlich fällt es zunächst schwer, sich einzugestehen, dass der Vater oft brutal war und die Mutter wenig Verständnis für mich hatte. Aber durch das Schreiben kam ich zu einem tieferen Verständnis für beide und begriff, warum sie so geworden sind, wie sie waren. Was war mein Vater für ein armer Mensch! Der hatte nie eine Chance, seiner Herkunft zu entkommen. Aufgewachsen auf einem Bauernhof, zwölf Kinder, ein liebloser Stiefvater. Das ist überhaupt das größte Geschenk für mich: in meinen Romanen aussprechen zu können, was mich in der Kindheit verletzt hat. Und mir gleichzeitig mehr Verständnis für die Eltern zu erschreiben.

Was waren wir brav, bei den KVB-Demos in Köln

Hilla, Ihr Alter Ego, ist sich ihrer Herkunft aus dem Arbeitermilieu sehr bewusst und fühlt sich in der Familie ihres reichen Freundes komplett fehlt am Platz. Wie lange schleppt man seine Herkunft mit sich herum?

HAHN Seine Herkunft trägt man immer in sich. Das muss einem aber nicht zeitlebens als Bürde erscheinen. Es kommt darauf an, eine Last in Proviant zu verwandeln. In Erfahrung, von der man auf seiner Lebensreise zehren kann. Das ist dann noch mehr als Versöhnung.

Ihr Roman spielt 1967/68 in Köln, und die Polit-Aktivisten, allen voran Rudi Dutschke, sind meist große Sprücheklopfer.

HAHN Da haben Sie Recht! Als ein Motto habe ich meinem Roman zwei Zeilen aus Kleists "Der Prinz von Homburg" vorangestellt: Ist es ein Traum? - Ein Traum, was sonst? Träumer waren wir damals alle. Dutschke ganz besonders. Er brannte für das, was er verkündete. Eigentlich war er ein Dichter, der mit großem Charisma eine bessere Welt besang. Gedichte leben von ihrer Offenheit. Jeder kann und darf sie mit seinen eigenen Empfindungen und Erfahrungen zu Ende schreiben, sie auf seine Weise interpretieren. Mit den Worthülsen in den politischen Debatten war es ziemlich das Gleiche. Die waren so weit, dass jeder sie sich um die Schultern schlingen konnte. Sie passten immer.

Mao und Dutschke konnten bei Ihnen also nicht punkten?

HAHN Davor hat mich sicher meine Herkunft bewahrt! Die wollten etwas für die Arbeiter tun? Das kam mir doch höchst seltsam vor. Damit konnten die mich nicht fangen. Und Vorlesungen sprengen? Ich studierte mit dem Honneffer Modell und wollte lernen.

Und trotzdem sind Sie mitmarschiert.

HAHN Der Weckruf für viele von uns war der Tod von Benno Ohnesorg. Zu Tausenden sind wir damals im Trauermarsch von der Universität zum Neumarkt gezogen. Da war wirkliche Anteilnahme zu spüren über ideologische Grenzen hinweg. Und ein Professor hat damals die Trauerrede gehalten.

Und später?

HAHN Genauso, wie ich mir aus Neugier Pathologie-Vorlesungen angehört habe, bin ich zu Polit-Veranstaltungen gegangen und habe geguckt, was da abging. Ich kann mich noch an meine erste Demo in Köln erinnern. Es ging gegen Fahrpreiserhöhungen der KVB. Was waren wir damals brav! Wir haben uns an der Universitätsstraße auf die Gleise gesetzt, die Polizei hat uns sitzengelassen, und irgendwann sind wir alle friedlich ab nach Hause. Als Rudi Dutschke nach Köln kam, musste man natürlich hin. Und bei den Protesten gegen die Notstandsgesetze war ich auch dabei.

Wie beurteilen Sie heute die 68er. War es eine Zeit des Aufbruchs?

HAHN Auf jeden Fall. Mir war zwar klar, dass die für die Arbeiter nichts tun konnten. Und dieses Gerede von einer Rätedemokratie und der permanenten Revolution hielt ich für Humbug. Aber sie haben frischen Wind in die Gesellschaft gebracht, und das war wichtig. Doch die wahren Gewinner dieser Zeit sind die Frauen. Die haben heute viel mehr Chancen als wir damals. Natürlich ist es für sie nach wie vor schwierig, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Du kannst eben nicht alles sofort und auf einmal haben. Aber die Richtung stimmt.

Wie war damals die Stimmung in Köln? Aufgeheizt wie in Berlin und anderen Städten oder eher ein bisschen verschnarcht?

HAHN Verschnarcht würde ich nicht sagen. Aber es gibt ja das Wort von der "rheinischen Frohnatur", eine rheinische Gemütsverfassung. Wenn man in Paris den Schulterschluss beim Demonstrieren suchte, suchte man ihn in Köln in der Kneipe beim Kölsch. Nach dem Anschlag auf Dutschke sprach Alfred Neven DuMont zu den Studenten und ließ als einziger Verleger den Protest auf dem Firmengelände zu, wodurch die Auslieferung der "Bild"-Zeitung verhindert wurde. Anschließend wurde Geld für den Verdienstausfall der Zeitungsausträger gesammelt. So was ist nur in Köln möglich.

Nicht zuletzt ist "Spiel der Zeit" auch ein großer Liebesroman. Hilla verliebt sich ausgerechnet in ihren Hugo aus großbürgerlichen Kreisen.

HAHN Ja, glücklich verliebt sind die beiden, da spielt die Herkunft keine Rolle. Und sprachverliebt. Wie ich überhaupt glaube, dass die Liebe im Kopf verankert werden muss. Natürlich machen sie, wie es sich für Verliebte gehört, auch viel verrücktes Zeug miteinander., aber Hillas Familie schließt Hugo ins Herz und er findet dort die Wärme, die ihm die eigene Familie nicht geben kann.

Die Gedichte laden Lese ein, innezuhalten

Sie haben dem Roman Gedichte mitgegeben...

HAHN Die Gedichte sind als Einladungen an Leserin und Leser gedacht, im Spiel der Zeit innezuhalten; sie verdichten das vorangegangene Geschehen und fügen neue Aspekte hinzu. Eine Abtreibung, wie im Roman geschildert, ist heute undenkbar; aber die Klitorisbeschneidung, wie im Gedicht "Für", ist ein noch immer heutiges Verbrechen.

Ein vierter Band ist geplant?

HAHN Ja. Die Entwicklung meiner Protagonistin muss zu einem Ende geführt werden, der ein neuer Anfang ist. Aber: Was man (noch) nicht geschrieben hat, darüber soll man schweigen.

Ein neuer Anfang, sagen Sie? Für einen fünften Band?

HAHN Mit Sicherheit nicht! Dann gebe ich meiner Fantasie die Sporen und lasse mich überraschen.

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