"Wir hatten den Mund zu halten"

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  • Hiltrud Kier über die Unfreiheit vor 1968, neue Ideen im Denkmalschutz und die revolutionäre Liebe zum Preußentum

Frau Kier, in welcher Welt sind Sie aufgewachsen?

In Graz - und das war in den 50er Jahren ungefähr das konservativste, was es in Europa gab. Es war eine relativ geschlossene Gesellschaft, die nationalistisch ausgerichtet war und dem Nationalsozialismus nicht nur nahe gestanden hatte, sondern von ihm überzeugt gewesen war. Das galt für die Lehrer, das galt für die Familie. In der Schule endete der Geschichts-Unterricht mit dem 19. Jahrhundert und einer großen Bismarck-Verehrung. Diese Enge, in der man kaum Luft bekam, habe ich relativ früh gespürt. Ich erinnere mich sehr gut an das Gefühl mit 16 Jahren, als ich dachte, ich halte es nicht mehr bis 18 aus, bis zum Erreichen des Abiturs, um dort wegzukönnen.

Wann haben Sie diesen Ausbruch gewagt?

Hiltrud Kier

Hiltrud Kier

Mit 18 bin ich dann tatsächlich gegangen - und zwar als Au-pair-Mädchen nach London. Dort habe ich nachgeholt, was in der Schule eigentlich hätte unterrichtet werden sollen - das Thema der Judenverfolgung, die Mitverantwortung der Eltern. Mein Mann, der Musikwissenschaftler ist, und ich sind 1958 nach Köln gegangen. Und dann kam 68.

Gibt es da eine Erfahrung, die Ihnen klarmachte, dass jetzt etwas Besonderes passiert?

Das war, als ich gerade promoviert hatte ...

Das vor dem Abriss gerettete Gereonskloster

Das vor dem Abriss gerettete Gereonskloster

Über mittelalterliche Schmuckfußböden, was erst einmal gar nicht revolutionär klingt.

Überhaupt nicht. Aber das waren die Themen, über die man gearbeitet hat: Mittelalter, noch etwas Renaissance, aber etwa über Barock zu forschen, galt schon als erstaunlich. Damals war ich zunächst einmal auf meine Dissertation konzentriert. Das große Thema der Zeit erreichte mich erst, als ich im Oktober zum Kongress der Kunsthistoriker nach Ulm fuhr.

Was war das Besondere?

Das vor dem Abriss gerettete Gereonskloster

Das vor dem Abriss gerettete Gereonskloster

Wir jungen Akademiker haben dort versucht, Diskussionen zu führen, die von der etablierten Kunstgeschichte direkt abgewürgt wurden: Die Studierenden und der Mittelbau hatten einfach den Mund zu halten. Diese Repression kann man denen, die sie nicht erlebt haben, kaum vermitteln. Die Autoritäts-Einforderung war selbstverständlich.

Welche Diskussionen wollten Sie führen?

Wir wollten eine Reform der Institutionen. Und im Bereich der Denkmalpflege gab es für uns ein zentrales Thema: Die Bearbeitung des 19. Jahrhunderts. Das wurde abgelehnt und als Hirngespinst junger Leute abgetan. Gleichzeitig fand in Berlin und Frankfurt die Besetzung von Wohnungen statt. Aber auch in Köln in der Friesenstraße.

Da ging es den Besetzern aber nicht um den Denkmalschutz ...

Nein, es ging um die Bewahrung des Wohnraums. Aber es war gleichsam die Aufforderung, hinzuschauen, was es da an schützenswerter Bausubstanz gibt.

Davon wollte der Kunsthistoriker-Verband nichts wissen?

Aus einer Protesthaltung gegen die etablierte Denkmalpflege, gegen das Establishment, wie es damals hieß, hat sich dann eine junge Gruppe gebildet, die sich der Ulmer Verein nannte. Man betrachtete uns, die wir linksliberal waren, als rotes Tuch. Die Mitglieder des Ulmer Vereins hatten deshalb auch Probleme, Stellen zu bekommen. Wir galten als Revolutionäre, weil wir uns dem 19. Jahrhundert widmen wollten.

Sie sind dieser Thematik, dem Denkmalschutz für Bauten des 19. Jahrhunderts, immer treu geblieben.

Für mich war dies eines der wichtigsten Dinge im Denkmalschutzbereich. Die Bewahrung des 19. Jahrhunderts in Köln stand für mich im Vordergrund. Die Stadt hatte dazu aus historischen Gründen eine ablehnende Haltung.

Weshalb?

Das war Preußen!

So einfach ist das?

So einfach! Köln hat noch 1958 alles abgerissen, was dazugehörte: die Oper, das Hohenstaufenbad, das Kunstgewerbemuseum am Ring, überhaupt die Architektur der Ringe, die ja noch vorhanden war wie etwa die Maximilianstraße in München. Aber nach 1968 hat sich etwas getan. Das zeigte sich auch beim Kunsthistoriker-Kongress 1970 in Köln. Da ging es unserem Ulmer Verein um die Bewahrung des ehemaligen Stadtarchivs von Friedrich Carl Heimann am Gereonskloster, das die Stadt zuvor dem Gerling-Konzern verkauft hatte. Die Diskussion darüber wurde von der Kongressleitung nicht zugelassen. Aber die Zeitungen griffen das Thema auf. Und am Ende wurde das Gebäude nicht abgerissen. Eine Kölner Legende besagt, dass es Kardinal Frings war, der Hans Gerling davon überzeugt hatte, davon Abstand zu nehmen. Aber als ich Hans Gerling einmal darauf angesprochen habe, wies er den Einfluss des Kardinals weit von sich. Das ehemalige Archiv ist ein wichtiger Bau, der immer noch dasteht.

Was hat die 68er-Bewegung den Frauen gebracht?

1968 fand nicht unter feministischen Vorzeichen statt. Aber es hat Möglichkeiten eröffnet. Auch für Frauen. Aber man musste sich schon selber darum kümmern. Es war ja noch völlig ungewöhnlich für eine Frau, sich in einer großen Menge zu erheben und das Wort zu ergreifen. Es war auch für junge Männer nicht einfach, aber für Frauen noch ein bisschen schwieriger.

Was ist für Sie das Beste, was uns 68 beschert hat?

Das Bewusstsein, Verantwortung für das Gemeinwohl zu haben, ist gestärkt worden. Da schauen Sie nur auf die fast 1000 Tafeln im Lande, die heute ganz überwiegend von Menschen betreut werden, die zwischen 65 und 75 Jahre alt sind. Wichtig war auch die Debatte über die Nazi-Vergangenheit. Vor allem aber schätze ich die Offenheit in den Diskussionen, die uns 68 beschert hat - an den Universitäten wie auch im Allgemeinen. Es können alle Fragen gestellt werden, unabhängig vom Alter. Offenheit auch gegenüber neuen Themen. Was die Studierenden beispielsweise jetzt umtreibt, ist die Architektur der 60er und 70er Jahre, bei denen manche Denkmalschützer zuweilen noch Berührungsängste haben.

Alles in allem: 1968 hat dem Land gutgetan?

Absolut. Selbstverständlich gab es mit der RAF einen totalen Irrweg, ein Ausrasten Einzelner. Aber die Offenheit, die gewonnen wurde, tut uns gut.

Und den Ulmer Verein gibt es immer noch?

Ja. Und der feiert in diesem Jahr sein Jubiläum, das 50-jährige Bestehen.

68 - Die Serie

Studentenrevolten von Berlin bis Berkeley, der Pariser Mai, das Attentat auf Rudi Dutschke und die Ermordung von Martin Luther King - das Jahr 1968 rüttelte die Welt durcheinander. Wir lassen Zeitzeugen zu Wort kommen und erinnern daran, wie '68 die Welt veränderte. In der nächsten Folge lesen Sie einen Beitrag über das Theater.

Zur Person

Hiltrud Kier, am 30. Juni 1937 in Graz geboren, war von 1978 bis 1990 Stadtkonservatorin in Köln. Von 1990 bis 1993 leitete sie die Generaldirektion der Museen der Stadt Köln.

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