Ai Weiwei in DüsseldorfTrauerarbeit mit dem Vorschlaghammer

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„Sunflower Seeds“ aus 100 Millionen Porzellansamen

„Sunflower Seeds“ aus 100 Millionen Porzellansamen

  • Der Künstler präsentiert sich als Reisender in Sachen Menschenrechte.
  • Das Werk "Straight" ist eine stumme Anklage gegen staatliche Schlamperei.
  • Die Ausstellung zeigt seinen Hang zum Monumentalen und zur üppigen Selbstinszenierung.

Düsseldorf – Es sind keine Kindersärge, dafür sind die Holzkisten schlichtweg zu groß. Und doch lässt sich die Vorstellung einfach nicht beiseiteschieben, denn die Wände sind mit den Namen und Geburtsjahren jener 5219 Kinder tapeziert, die im Jahr 2008 bei einem Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan ums Leben kamen. Ai Weiwei, der Künstler und Menschenrechtler, ließ sie penibel recherchieren, weil er in den Schülern Opfer staatlicher Schlamperei beim Schulbau sieht. An ihrer Stelle liegen in den langen Transportkisten Tausende Stahlstäbe aus eingestürzten Schulgebäuden. In langjähriger Handarbeit ließ Ai Weiwei den von der Naturkraft verbogenen Stahl wieder begradigen. Als könne er das Unglück dadurch ungeschehen machen.

Ai Weiweis „Straight“ gehört zu den seltenen Werken der Konzeptkunst, bei denen sich einem das Herz zusammenzieht. Es ist eine stumme Anklage, eine verzweifelte Geste und ein im Grunde absurder Widerspruch in sich: Trauerarbeit mit dem Vorschlaghammer. Museen in aller Welt haben die tonnenschwere Arbeit in Form eines aufgeschichteten Bodenreliefs gezeigt, doch jetzt, in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW, hat der chinesische Kunstweltstar erstmals beschlossen, die Stahlstäbe in ihren Transportkisten zu belassen. Geht er den entscheidenden Schritt zu weit, wenn er den Stahl wie Stellvertreter in offenen Särgen vor uns hinstellt? Oder begegnet Ai Weiwei dem gegen ihn gelegentlich erhobenen Kitschverdacht mit zur Schau gestellter Selbstkritik: Seht her, ich bin es, der Reisende ins Sachen Menschenrechte.

Es gibt derzeit keinen anderen Künstler, bei dem Kunst und Aktivismus so eng miteinander verbandelt sind. Und wie jeden Politkünstler begleitet auch ihn das Misstrauen, dass Kunst für ihn vor allem ein Podest für politische Botschaften ist. Insofern ist die Düsseldorfer Mammutschau mit Hauptwerken vor allem aus den letzten zehn Jahren ein willkommener Lackmustest – zumal in diese Zeit Ai Weiweis Ausreise aus China und die damit verbundene neue Ausrichtung seiner Arbeit fällt. Nachdem er sich in China zum prominenten Kritiker der kommunistischen Partei entwickelt hatte, widmete er sich nach 2015 der Flüchtlingskrise in Europa. Darunter macht es Ai Weiwei nicht; er richtet sich und seine Kunst an übermächtigen Gegnern und Themen im welthistorischen Maßstab aus. Zwei Dinge haben sich dabei nicht geändert: Ai Weiweis Hang zum Monumentalen und zur üppigen Selbstinszenierung. Letzteres ist ein Erbe staatlicher Repressionen in China, die seine zeitweilige Inhaftierung, eine angebliche Steuerschuld in Millionenhöhe und ausgiebige Bespitzelungen umfassten. Gegen all dies wehrte sich Ai Weiwei, indem er die Drangsalierungen und sich selbst in Kunst verwandelte: In „Sacred“ stellte er seine Haft in übergroßen Puppenstuben nach, auf Bilderserien hetzt er Spitzeln mit dem Smartphone hinterher, und die Scheine, mit denen er die aus aller Welt eingegangenen Spenden zur Tilgung seiner Steuerschuld quittierte, bilden in Düsseldorf das Muster einer riesigen Wandtapete.

Auch in seiner großen Installation zur europäischen Flüchtlingspolitik kann man Ai Weiwei kaum entgehen. Mit einem Tross Assistenten war er nach Idomeni gereist und sammelte, nachdem der griechische Staat das auf gut 14 000 Bewohner angewachsene Flüchtlingslager aufgelöst hatte, die dort zurückgelassenen Kleidungsstücke ein. Jetzt hängen sie gesäubert, geflickt sowie nach Sorten und Größen sortiert wie im Kaufhaus an Kleiderständern; es ist im doppelten Sinne eine Secondhand-Arbeit, denn ihr Mahnmal-Prinzip kennen wir bereits aus „Straight“.

An den Wänden hängen hier Bildtapeten mit Schnappschüssen aus Idomeni (und viel Ai Weiwei), dazu gibt es mit Kriegsszenen verzierte Teller und Vasen zu sehen und mit „Life Cycle“ eine weitere Chinoiserie: das aus Bambus, Garn und Seide bestehende 18 Meter lange Schlauchboot trägt eine dicht gedrängte Menge aus Menschen und Verkörperungen der chinesischen Tierkreiszeichen in eine ungewisse Zukunft.

Es ist erstaunlich, wie kalt einen manche dieser Arbeiten lassen, während andere selbst beim zweiten oder dritten Wiedersehen noch ergreifend sind. Die „Sunflower Seeds“ etwa haben nichts von ihrer erhabenen Eleganz verloren: 100 Millionen von Hand bemalte Sonnenblumenkerne aus Porzellan, sauber aufgeschüttet zu einem riesigen Podest. Man sieht beinahe das von Ai Weiwei angeführte Arbeitsheer chinesischer Malerinnen vor sich, das sich in diesem Werk verewigte. Es ist seine stille Reserve im Kampf gegen Riesen.

„Ai Weiwei“, Kunstsammlung NRW, K20 Grabbeplatz und K21 Ständehaus, Düsseldorf, Di.-Fr. 10-18 Uhr, Sa.-So. 11-18 Uhr, bis 1. September. Katalog: 32 Euro.

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