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Aus dem Schattenreich der ErinnerungPatrick Modiano und sein neuer Roman

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Der französische Schriftsteller Patrick Modiano.

Köln – Erinnerung ist das zentrale Motiv in fast allen Romanen von Patrick Modiano, der seit seinem Debüt „Place de L´Étoile“ aus dem Jahr 1964 dieses Erzählmotiv unbeirrt vor sich hertreibt und dafür zu Recht vor sechs Jahren mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde. Ihm folgt auch sein jüngstes Werk „Unterwegs nach Chevreuse“, das von Elisabeth Edl in gewohnter Eleganz aus dem Französischen übertragen wurde.

Modiano lässt Elemente aus früheren Romanen erkennen

Es ist der 30. Roman des inzwischen 76-jährigen Autors, der seine Erzählfiguren oft in schemenhafter Identität agieren lässt und damit trotz einer gewissen Fiktionalität Spannung und Atmosphäre entwickelt, die einen nicht mehr loslässt. So erscheint uns auch der „neue“ Modiano als Vollstrecker einer lebenslangen Suche nach einer verlorenen Zeit, was sein Lesepublikum häufig dazu verführt, eine Parallelaktion zu Marcel Proust und seiner „Recherche“ vor sich zu haben.

Aber dieser Eindruck täuscht. Denn Modiano verstrickt sich zwar wiederum in ein Netz von Erinnerungsfetzen, dessen Fiktionen sich allein aus der autobiographischen Substanz ihres Erfinders nähren. Aber seine Obsession rührt allein aus der zwielichtigen Okkupationszeit und dann den sechziger Jahren, in denen sein Alter Ego Jean Bosmans, dem wir bereits in Modianos Roman „Der Horizont“ begegnet sind, und der sich jetzt an seine Kinder- und Jugendzeit zu erinnern versucht.

Zum Buch

Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, München. 157 S., 22 Euro.

Damals wohnte seine Familie in der Nähe der Porte d´Auteuil – ein vierzigjähriger Mann, ein junges Mädchen – Kim – als Gouvernante – und eben der Erzähler Jean Bosmans, der sich Jahrzehnte später an diese Kindheit zu erinnern versucht. So glaubt er, durch die Scheibe eines Wimpy-Restaurant an den Champs-Elyseés das Gesicht von Kim wiederzuerkennen, die seinerzeit in der Pariser Wohnung seiner Eltern gearbeitet hat.

Unterwegs nach Chevreuse findet man skurrile Gestalten

Ihr gegenüber sitzt ein Mann, an dessen Handgelenk eine Uhr klingelt. Sind das die Leute, denen er so oft in dem nur eine halbe Autostunde entfernten Haus in Chevreuse begegnet ist? Dieses Haus mitten im Grünen gehörte einer gewissen Rose-Marie Krawell, die wiederum mit dem etwas merkwürdig erscheinenden René-Marco Hériford verbandelt schien.

Es sind insgesamt seltsame Figuren, die Jean Bosmans vor seinem geistigen Auge erscheinen. Da ist etwa Camille, genannt der „Totenkopf“ und befreundet mit der dunkelhaarigen Martina Hayward. Waren sie auch bei der Flugshow dabei, an die er sich zu erinnern meint?

Und wo befindet sich das Grab von Dr. Guillotin, mutmaßlich der damalige Hausarzt der Familie? Waren das alles Gäste, die regelmäßig damals in Auteuil und in Chevreuse verkehrten?

Seltsame Stimmen und Déjà-vus

Bosmans macht sich Notizen und sagt sich, es werde nie mehr etwas Neues geben in seinem Leben. Er macht sich auf den Weg nach dem merkwürdigen Haus in Chevreuse, versucht in der alten Wohnung in Auteuil anzurufen, wählt die alte Telefon-Nr. 15.28. Er meint, in der Leitung Stimmen zu hören, die ihm irgendwie bekannt vorkommen. Ist das die „Rückkehr der Gespenster“ aus dem Schattenreich seiner Erinnerung? Das Haus in Chevreuse mit seiner von Bäumen dicht bewaldeten Umgebung eine Art „Geheim-Provinz“? Wer traf sich da alles? Camille Lucás, Jeanette aus Nantes?

Camille arbeitet im „Büro“ im Saint-Lazare-Viertel. Und was treibt der ständig anwesende Michel Deganat eigentlich? Bosmans hat sie alle aufgeschrieben. Camille arbeitet anscheinend im Büro eines gewissen Guy Vincent, vor dem Bosmans gewarnt wird „Der Typ ist kein guter Umgang.“ In seinem Schatten- und Gedankenspiel erinnert sich Bosmans, dass Guy Vincent mit zwei Kumpanen in der Haftanstalt von Poissy gelandet ist.

Jean Bosmans Erinnerung führen zu Rätseln

Warum sind sie hinter ihm her? War er der Mann, der ihm damals einen Kompass geschenkt hat? Worüber haben all diese Leute gesprochen? Und warum wurde er von ihnen später verfolgt? Bei dieser „Wiederkehr der Gespenster“ ging es offenbar um Geheimnisse, an die sich Bosmans vergeblich zu erinnern versucht. “Wissen Sie“, sagt man ihm im Hotel: “Man darf im Leben nicht allzu neugierig sein…“

Durch die Schichten der Zeit, die Modiano aufdeckt, drängt immer wieder die Vergangenheit heran, die Bosmans in seiner Erinnerung heraufbeschwört. Sie erscheint ihm als eine Zeit, in der ihm alle Möglichkeiten offen gestanden haben. Der Vergangenheit und ihrem Verlust ist Modiano immer näher gewesen als der Gegenwart. Sein leiser Erzählton gibt wieder, was er gesehen und gehört hat. Den Rest erfindet er. Und das ist großartig.

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