Chinesischer Philosoph klagt anWer ist schuld am Scheitern der Welt? Der Westen!

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China in Zeiten der Krise durch das Coronavirus: Ein Philosoph entwirft derweil das Modell einer neuen Weltordnung.

China in Zeiten der Krise durch das Coronavirus: Ein Philosoph entwirft derweil das Modell einer neuen Weltordnung.

  • Zhao Tingyang zählt zu den wichtigsten Denkern Chinas. In seinem neuen Buch entwirft er nun ein düsteres Szenario. Er schreibt nicht nur von „failed states”, sondern gleich von einer gescheiterten Welt.
  • Und für ihn ist auch klar, wer die Schuld daran trägt. Der Westen!

Dieser Philosoph will die Welt retten. Aber welcher Philosoph hätte das nicht gewollt? Zhao Tingyang zählt zu den wichtigsten Denkern Chinas. In seinem nun erstmals in Deutsch erschienen Werk „Alles unter dem Himmel“ sucht er einen Weg zum Weltfrieden. Denn er hält die Welt in ihrer jetzigen Form für gescheitert.

Der chinesische Denker sagt eine neue Ordnung voraus. Und wenn das eine Person seines Ranges aus dem Reich der Mitte unternimmt, sollte uns das im Westen aufhorchen lassen. Sogleich führt er sein Zauberwort ein, es heißt „tianxia“, ein Begriff aus der chinesischen Antike. Es hat eine Bedeutung wie die des Buchtitels, erklärt er. Aber er bleibt bewusst vage, weil dieser Begriff so vielschichtig sei.

Mit wem wir es zu tun haben? Mit einem Chinesen, der nicht etwa ein Dissident wäre, auf der Flucht vor einem Staat, der diktatorische Züge aufweist, Bürger einsperrt und umerzieht. Nein. Dieser Mann ist ein loyaler Bürger eines autoritären Staates. Das Spannende an ihm: Er unterzieht das politische Denken des Westens einer grundlegenden Kritik. Zhao entwirft überdies eine alternative Weltordnung, was dem Anspruch seines Landes, die seit dem 19. Jahrhundert herrschenden Kräfteverhältnisse zu verändern, entgegenkommt. Sein Konzept stammt aus einer Zeit, als es noch kein großes China gab.

Unter den westlichen Chinakennern gilt der zurückgezogen lebende, mit einer Galeristin verheiratete Zhao Tingyang, Jahrgang 1961, als Star-Intellektueller. Er lehrt an der Akademie für Sozialwissenschaften in Peking. Sein Buch ist eine Provokation. Individuum, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte – alles wird von ihm infrage gestellt. Wie gesagt, wir reden nicht von einem Parteiapparat, der keinerlei Widerspruch duldet, sondern von einem Denker, der sich in freier Reflexion übt, sich stützend auf die Legenden der chinesischen Philosophie. Die zentralen Kategorien und Werte westlicher Gesellschaften werden von ihm in dem kleinen Büchlein nicht allein kritisch hinterfragt, sondern die Denker des Westens als naiv und als Träumer abgetan. Das Buch bezichtigt die Staaten des Westens, vor allem die USA, der Doppelmoral, es kramt in verschwörungstheoretischen Kontexten und sieht den Westen mitten in einer gigantischen Ego-Falle gefangen.

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Der Zustand der Welt ist für ihn herzlich schlecht, hier gleicht er fasst den Goethe’schen Mephistopheles. Es gebe nicht einzelne „failed states“, „sondern eine gescheiterte Welt“. schreibt er. Dann zählt er auf: Ungleichheit, zahllose ungelöste Konflikte, der Klimawandel, die wachsende soziale Ungleichheit, der zügellose Finanzkapitalismus. Und vor allem: es gibt kein taugliches Werkzeug, die Probleme der Welt im Ganzen zu lösen. Und das sei die Schuld des Westens, sagt er. Denn schließlich würden wir uns alle in einer westlich geformten Welt befinden, seien Teil der Nachkriegszeit und der politischen Schlussfolgerungen, die aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden.

Im Grunde würden wir in einer parzellierten politischen Landschaft leben, denn die internationalen Systeme würden versagen. Der Nationalstaat throne über allem, das Erzeugnis des Westfälischen Friedens von 1848. Die „Welt“ sei weder Kategorie noch „politisches Subjekt“, sondern eine Einbildung. Denn die Globalisierung würde die Defizite der internationalen Strukturen schonungslos offenlegen. Das menschliche Zusammenleben würde nach wie vor in den Kontexten des Nationalstaates gedacht. Doch in einer globalisierten Welt, so Zhao, reiche das nicht aus. Das Zusammenleben müsste anders organisiert werden, es bedürfe einer anderen zugrundeliegenden Struktur „und dies wirft die Frage einer über das System der Nationalstaaten hinausgehenden Machtausübung auf.“

Doch wie soll man das Problem lösen, wenn internationale Organisationen wie die Europäische Union oder die UN zunehmend in ihrem hausgemachten Problemsumpf steckenbleiben?

Für Zhao kann die Lösung nur aus einer Richtung kommen. Er denkt an das kosmologische Weltordnungsprinzip des alten China. Natürlich. Zhao führt das Tianxia ein. Es umfasst die physische, spirituelle, aber auch die politische Welt im Ganzen. Tianxia kennt keine Staaten, keine Grenzen, kein Außen, nur ein Innen. Das große historische Vorbild liefert für Zhao die Zhou-Dynastie. Sie herrschte, noch bevor China durch Feuer und Schwert zu einem großen Komplex vereinigt wurde. Die Zhou-Dynastie verfügte selbst nicht über besondere Ressourcen in materieller Hinsicht, militärisch war sie nicht besonders konkurrenzfähig. Sie setzte auf die innere Attraktivität. „Systemüberlegenheit anstelle militärischer Autorität“ nennt Zhao das.

Der Autor und das Buch

Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel: Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), 266 Seiten, 22 Euro.

Zhao Tingyang gilt als einer der bedeutendsten chinesischen Philosophen der Gegenwart. Seine Überlegungen zu einer neuen politischen Weltordnung liegen in deutscher Übersetzung vor.

Sein Beispiel sind die Eidgenossen, es sei so, als würden die Schweizer nach und nach ganz Europa eingemeinden, einfach nur deshalb, weil ihr wirtschaftliches und politisches System dem der anderen überlegen sei.

Die Gründer des 1912 entstandenen chinesischen Nationalstaats lehnten das Tianxia-Konzept entschieden ab. Die Theorie der Philosophie unter dem Himmel wurde nie in völliger Reinform praktiziert. Aber welche Philosophie wurde das schon? Die Gewaltenteilung von Montesquieu würde in direkter Umsetzung jeden Staat zur Funktionsunfähigkeit bringen. Gewalten sind immer miteinander verschränkt, um funktionieren zu können, lehrt die Praxis.

Dennoch. Der Grundgedanke einer im Prinzip staatenlosen Welt präge Chinas Kultur aber bis heute, sagt der Philosoph aus Peking. Im Zeitalter der Globalisierung sei er dem westlichen Nationalstaatskonzept überlegen, weil er die Probleme in ihrer globalen Dimension erfasse.

Unter dem Himmel Chinas lehrt Zhao also die Harmonie des Inneren. Derweil bricht sein Staat auf, um in einer beispiellosen Eroberung seinen Platz an der Sonne wiederzugewinnen.

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