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Corona und „Krieg der Welten“Ein Virus kennt keine Moral

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REM infektionen antibiotkika helfen nicht

Bakterien im Rasterelektronenmikroskop

  • Viele Wissenschaftler nennen Bakterien und Viren die heimlichen Herrscher der Welt. Der Science-Fiction-Autor H.G. Wells hat es schon 1898 gewusst.
  • In seinem Roman „Krieg der Welten“ überlebt die Menschheit einen Angriff vom Mars nur, weil die Marsianer an einem Schnupfen zugrunde gehen.
  • Im Lichte der Coronakrise liest sich Wells' berühmtes Buch noch einmal ganz neu.

Köln – Als vor einigen Jahren eine Reihe populärwissenschaftlicher Autoren Viren und Bakterien wahlweise zur „Supermacht des Lebens“ oder zu „Herrschern der Welt“ ausrief, hätte sich der viktorianische Science-Fiction-Schriftsteller H.G. Wells aufs Schönste bestätigt fühlen können. In seinem 1898 erschienenen Bestseller „Der Krieg der Welten“ wird die Menschheit von Marsianern überfallen, unterjocht und zu Hunderttausenden geschlachtet, bis die uns in allen technologischen Belangen überlegenen Eroberer am gemeinen Schnupfen zugrunde gehen. „Es gibt keine Bakterien auf dem Mars“, lässt Wells seinen Romanhelden aufatmen, „und sobald die Eindringlinge tranken und aßen, begannen unsere mikroskopischen Verbündeten sie zu unterwerfen. Sie waren schon verdammt, zu verrotten und zu sterben, während sie sich noch unverwundbar glaubten.“

Wells schrieb seinen „Krieg der Welten“ als Satire auf den englischen Kolonialismus, der in Herrenmenschenmanier angeblich unterlegene Völker ausbeutete und sich dafür in klimatisch ungewohntes Gebiet vorwagte. Allerdings setzte der umfassend gebildete Wells nicht von ungefähr auf die „verbündete“ Streitmacht der Bakterien. Entdeckt wurden die Kleinstlebewesen bereits im Jahr 1676 von Antonie van Leeuwenhoek, aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb Louis Pasteur die maßgebliche Rolle der Mikroben für die auch evolutionsbiologisch bedeutenden Gärungs- und Fäulnisprozesse; 1884 entwarf Robert Koch dann ein wegweisendes Konzept, um den Zusammenhang von viralen Erregern und epidemischen Krankheiten zu bestimmen. Wells befand sich also auf der Höhe der modernen Forschung, als er die Marsianer mit Wissenschaftlern verglich, die sich über Mikroskope beugen, um „durchscheinende, in einem Wassertropfen schwärmende und sich vermehrende Lebewesen“ zu studieren. Allerdings ziehen die außerirdischen Beobachter auf fatale Weise die falschen Schlüsse. Was wäre, lässt Wells seinen Erzähler fragen, wenn es uns mit den Kreaturen im Wassertropfen ähnlich ginge?

Ganz im Sinne der wertneutralen Naturwissenschaften sah Wells in den Mikroben selbstredend keine wirklichen Verbündeten oder gar selbstlose Retter. Sie waren für ihn vielmehr potenziell tödliche Konkurrenten in einer feindlichen Umwelt, in der nur überlebt und gedeiht, wer sich erfolgreich an diese anpasst. Die Menschheit übersteht für Wells’ Erzähler den „Krieg der Welten“, weil sie sich das Recht, auf der Erde zu sein, über Jahrtausende hinweg und unter großen Opfern erkämpfte. „Diese Krankheitskeime“, schreibt er, „haben seit Beginn der Dinge von der Menschheit ihren Tribut gefordert. Aber aufgrund dieser natürlichen Auslese haben wir unsere Widerstandskraft entwickelt; keinem Keim erliegen wir kampflos, und gegen viele sind wir völlig immun.“ Die Marsianer, die glaubten, sie könnten die Evolution einfach ignorieren, haben für ihn kein Recht, auf Erden zu sein.

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Der Mensch lebt und stirbt nicht vergeblich, heißt es bei Wells, denn die Millionen, die an Bakterien und Viren starben, halfen das Überleben der Menschheit als Ganzes zu sichern. Diese Schlussfolgerung war damals keinesfalls tröstlich gemeint, und sie ist es noch viel weniger im Angesicht der Corona-Krise. Aber sie beschreibt sowohl unsere Abhängigkeit von wie auch unsere freundlich-feindliche Koexistenz mit den Mikroben mit angemessenem und geradezu prophetisch wirkendem Pathos. Schließlich wissen wir heute sehr viel mehr über die Kleinstlebewesen als ausgangs des 19. Jahrhunderts – was aber auch bedeutet, dass wir besser wissen, wie viele Rätsel uns Bakterien und Viren weiterhin aufgeben. Forscher schätzen, dass wir überhaupt nur einen Bruchteil der auf der Erde lebenden Mikrobenarten kennen. Und diejenigen, die wir kennen, haben wir kaum oder lediglich unter der Perspektive der Schadensabwehr erforscht.

Setzt die britische Regierung wirklich auf natürliche Auslese?

Was wir über die Mikroben wissen, lässt die Formel von den „Herrschern der Welt“ keinesfalls übertrieben erscheinen. Bakterien und Viren sind die ältesten Lebewesen auf Erden (der „Bacillus permians“ wird auf 250 Millionen Jahre geschätzt) und haben die frühe Evolution maßgeblich gesteuert. Die Photosynthese ist eine „Erfindung“ der Mikroben, sie ermöglichen uns zudem, andere Organismen zu verdauen. Jeden Einzelnen von uns bevölkern sie zu Milliarden, vor allem im Darm und auf der Haut. Hätten wir Mikroskope statt Augen, sähen wir im Spiegel statt eines Gesichts ein Wimmelbild. Ohne Bakterien, kurz gefasst, gäbe es keine Menschen; lediglich bei den Viren fällt es schwer, dem Schaden einen Nutzen gegenüberzustellen.

Evolution kennt keine Moral, das wusste auch H.G. Wells. Der Kampf gegen eine Pandemie führt ohne Moral hingegen in den Abgrund des sozialen Darwinismus. Soeben hat die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy der britischen Regierung vorgeworfen, auf eine Strategie der natürlichen Auslese zu setzen, in der die Alten und Schwachen im Lauf der Herdenimmunisierung sterben müssen, um die überlebende Gesamtbevölkerung zu stärken. Aber traut man dem britischen Premier Boris Johnson wirklich zu, dass er bei Corona zuerst an die Entlastung von Renten- und Gesundheitskassen denkt?

In Wells’ „Krieg der Welten“ bildet das ewige Drama des biologischen Überlebenskampfes lediglich den Hintergrund des Geschehens; die eigentliche Perspektive liegt auf den alltäglichen Dramen eines Kriegs, den wir, in anderer Weise, heute gegen den Coronavirus führen. Den Wells’schen Helden treibt die Sorge um Angehörige und andere geliebte Menschen an, es geht um Opfermut, Zusammenhalt – und um die Einsicht, dass man den Krieg nur gewinnen kann, wenn man sich der Einsicht in die eigenen Stärken und Schwächen nicht verschließt.

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