Das Leben in der Fremde meistern

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Die Kölner Dokumentarfilmerin Bettina Braun macht Filme, die nicht gleich die ganze Welt erklären wollen. Sie schaut auf die Lebenswirklichkeit von Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse. Es ist ein Innehalten und Hinschauen, wo gewöhnlich weggesehen wird. Dabei bedarf es eines unvoreingenommenen Blickes und eines langen Atems.

Wie in den drei Langzeitstudien über muslimische Jugendliche aus Köln, die sich im Jugendzentrum Klingelpütz trafen und deren Lebensweg Bettina Braun in der mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Trilogie „Was lebst du?“, „Was du willst“ und „Wo stehst du?“ über zehn Jahre hinweg verfolgte. Auch ihr neuer Dokumentarfilm „Lucica und ihre Kinder“ hat eine lange Vorlaufgeschichte. 2015 lernte die Filmemacherin Lucica und ihre Familie kennen, als sie für den WDR die Reportage „Nordstadtkinder – Stefan“ drehte. Der Junge lebt mit seiner Mutter und den fünf Geschwistern unter prekären Bedingungen in Dortmund in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Die Roma-Familie war in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus Rumänien ausgewandert.

Lucicas Ehemann Daniel aber sitzt in Deutschland in Haft und wird nach einem Diebstahlsdelikt nach Rumänien ausgewiesen. Wie die 29-jährige Mutter und ihre Kinderschar das Leben unter diesen Umständen zu meistern versuchen, das zeigt der Dokumentarfilm, indem er einen Zeitraum von eineinhalb Jahren zusammenfasst.

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Die Nähe, die Bettina Braun dabei im Laufe der Zeit zu ihren Protagonisten aufgebaut hat, erweist sich dabei als ebenso segensreich wie tückisch. Wenn Lucica die Filmemacherin mal als Schwester, mal als beste Freundin bezeichnet, offenbart sich ein Vertrauensverhältnis, das weit über das übliche Maß hinausgeht. Immer wieder unterstützt Bettina Braun die Familie mit Geldbeträgen, bis sie selbst merkt, dass eine Grenze überschritten ist.

Unmittelbare Nähe

Die gegenseitige Sympathie, die eine unmittelbare Nähe zwischen der Filmemacherin und ihren Protagonisten möglich macht, führt im Gegenzug dazu, dass bei der Familie Erwartungen entstehen, die über kurz oder lang nicht zu erfüllen sind.

Beide Aspekte sorgen aber im Ergebnis dafür, dass der Film so außergewöhnlich geworden ist. Bettina Braun taucht ins Familiengeschehen ein. Wenn Lucica putzen geht, bleibt sie mit der Kamera bei den Kindern daheim. Beim Drehen in der Grundschule, die anfangs zwei, später drei der Kinder besuchen, ist der Film ebenso präsent wie bei der kurzen Reise nach Rumänien, wo Lucica und die Kinder den abgeschobenen Daniel wiedersehen.

Der Zuschauer wird Zeuge, wie solidarisch und körperlich liebevoll Lucica und ihre Kinder miteinander umgehen. Man erfährt aber auch von Problemen zwischen den Eheleuten, denn Lucica will zurück nach Deutschland und weigert sich, Daniels Mutter Geld zu überweisen.

Dass die Gegenwart einer Kamera auch die Gegenwart des Gezeigten verändert, gilt wohl für jeden Dokumentarfilm. In diesem Fall führt allerdings die Fürsorge der Filmemacherin kurzzeitig zum Abbruch des Projektes, weil während der Dreharbeiten die Rollen geklärt werden mussten. Selten wurde das Dilemma von Intimität und Distanz in einem Dokumentarfilm so augenfällig und so eingehend zum Thema des Filmens. Überfordert von einem Berg von Rechnungen und Behördenformularen, muss Lucica damit klar kommen, dass ihr der Strom abgestellt wird. Die Schuldfrage stellt der Film nicht, wohl aber wird deutlich, dass die alleinerziehende Mutter zwar vorbildlich intern die Familie zusammenhält und organisiert, aber im Umgang mit der Außenwelt zuweilen alle Probleme sträflich verdrängt.

Kleines Happy End

Am Ende kann der Film sogar noch ein kleines Happy End präsentieren. Eine freundliche Nachbarin verhilft der Familie zu einer neuen Wohnung, und das Jobcenter gibt ihr einen Kredit, um die Stromrechnung zu bezahlen. Als Bettina Braun die Familie in der neuen Wohnung besucht, wartet Lucica mit einer weiteren Überraschung auf. Sie zeigt die Ultraschallfotos ihrer neuen Schwangerschaft, und der Filmemacherin fällt in der ersten Verblüffung nur eine Frage ein: „Warum?“

DATEN ZUM FILM

„Lucica und ihre Kinder“ wurde beim Film Festival Cologne mit dem Filmpreis NRW als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Die Kölner Termine:

Sonntag, 25.11. – 16 Uhr,

Lichtspiele Kalk Samstag, 01.12. – 17 Uhr,

Lichtspiele Kalk

Sonntag, 09.12. – 15 Uhr,

Filmpalette Mittwoch, 19.12. – 18 Uhr, Filmpalette

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