Der Corona-FrühlingHusch Josten schreibt über Lebensgefühle und Perspektiven

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Husch Josten schreibt über den Corona-Frühling

  • Die Kölner Schriftstellerin Husch Josten schreibt in einem Gastbeitrag über Lebensgefühle und -perspektiven im Corona-Frühling.

Man kann das verstehen. Wie es weitergeht, wohin man geht, nein: ob überhaupt etwas geht, zumal das Andere, der Stillstand, schon viel zu lange geht... Man kann verstehen, dass die linearen Abstandsverhältnisse zwischen dem im Raum stehenden Objekt und dem Standpunkt seiner Betrachter bemessen und erklärt sein sollen, dass man wissen muss, von wo was betrachtet wird und dass es jetzt genug ist mit dem Warten und Hoffen und Bangen.

Der Gedanke drängt sich auf, weil die Mimosen vor meinem Fenster zu blühen begonnen haben, über Nacht, und weil sie das im letzten Jahr genauso getan haben, irgendwann Mitte Februar, und weil der Abstand zwischen diesen beiden Blüten den Stillstand bemisst. Wobei in Frankreich derzeit weniger stillgestanden wird als in Deutschland. Die Geschäfte sind geöffnet. Beispielsweise. Gelebt wird tagsüber, allerdings nicht mehr als sonst auch gelebt wird, nur vorsichtiger.

Und ab 18 Uhr schleicht sich das Land oder wird, fünf nach sechs, am Kreisverkehr von freundlichen Gendarmen darauf hingewiesen, dass es Zeit ist, nach Hause zu eilen. Man kann das verstehen: Couvre feu, also Ausgangssperre, ist nun mal Ausgangssperre, und irgendwer muss für ihre Einhaltung Sorge tragen.

Nur die Händler und Apotheker und Bäcker und der Pizza-Lieferant sind nach 18 Uhr noch unterwegs; die einen fahren nach Hause, der andere startet in einen weiteren boomenden Abend; für ihn läuft es gut. Und obwohl ich mit Pizza nichts zu tun habe, hielt jüngst auch mir ein Freund vor: „Für dich ist das alles nicht kritisch.“

Künstler und Künstlerinnen sind Einzelkämpfer

Es klang mürrisch, obschon er im Allgemeinen nichts gegen Literatur einzuwenden hat. „Für dich ist das alles nicht kritisch, denn bei dir hängen keine Arbeitsplätze dran, und schreiben kannst du immer, wann und wie du willst.“

Man kann das verstehen. Die Sorge und Verantwortung für die Existenz anderer wiegt schwer, und Künstler – egal welche: bildende, tanzende, malende, schreibende, musizierende, schauspielernde, humoristische und hoffentlich habe ich da jetzt niemanden vergessen, sind Einzelkämpfer. Sie haben – zumindest in der Überzeugung vieler Ökonomen – Brotlosigkeit und Alleinsein bei der Berufswahl mit eingekauft. Sie wussten, worauf sie sich einlassen: Schönes.

Sich irgendwie durchzuschlagen, ja: durchzukämpfen, notfalls als Getränkelieferant, nun, das gehört für einen Operntenor halt dazu, wusste man ja vorher, da ändert ein mutiertes Virus auch nicht viel dran.

Die Autorin

Hildegard „Husch“ Josten, 1969 in Köln geboren, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Nach einer journalistischen Ausbildung leitete sie die Pressestelle der Köln-Arena, heute arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Josten veröffentlichte mehrere Romane, zuletzt „Hier sind Drachen“ (2017) und „Land sehen“ (2018). 2011 wurde sie für den „aspekte“-Literaturpreis nominiert, 2019 erhielt sie den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. (red)

Man muss das weder gut noch richtig finden, aber man kann die Herkunft solcher Gedankenverstehen. Vielleicht muss man es sogar, denke ich, und betrachte die gelbfedrigen Mimosa, bei deren Anblick vor genau einem Jahr ich nicht wusste, unter welchen Umständen sie in diesem Jahr erblühen würden. Ähnlich wie man an Silvester oder am Geburtstag in den Himmel schaut und sich fragt, unter welchen Umständen man in genau einem Jahr wieder dorthin schaut, ob alles so kommen wird, wie man denkt, weil es ja eigentlich immer ander…

Warum die meisten Menschen dabei in den Himmel schauen, weiß ich nicht, tun sie aber. Dass etwas in den Sternen stehen soll – eine abgegriffene Floskel. Dass Regeln zuweilen seltsame Blüten treiben – auch das kommt vor. Es ist kompliziert mit den Perspektiven. Ich weiß, dass jeder seine eigene hat; es also Perspektiven so zahlreich wie Menschen gibt.

Schadensbegrenzung ist eine Frage der Perspektive

Nun aber fordern und versprechen viele Menschen eine Perspektive. Nur eine. Sie tun das in Talkshows und Nachrichtensendungen und auf Pressekonferenzen und überall. Und auch das kann man verstehen. Wenn alles unwägbar und unsicher geworden ist, sich unserer Kontrolle entzieht, wenn wir hinterher- und nicht voranlaufen, unzureichenden Daten, Schätzungen, so oder so lesbaren Statistiken ausgeliefert sind, dann sollen doch wenigstens die eine Perspektive geben, die es könnten: die, die Macht haben, zumindest einen Teil unserer Geschicke zu bestimmen und den Schaden so gering wie möglich zu halten.

Aber auch Schadensbegrenzung ist eine Frage der Perspektive. Schaden ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Wer wollte eine Prioritätenliste erstellen darüber, wer wann wodurch am meisten Schaden nimmt? Gibt es eine Zentralperspektive? Oder braucht es hier die Parallel-, die Eck- oder gar die Luftperspektive?

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Interessant, dass jegliche dieser Perspektiven mit Kunst zu tun hat. Mit der Art, die Dinge zu betrachten. Und vielleicht ist es in der Frage nach der Perspektive ausgerechnet diese Perspektive, die zu kurz kommt: die künstlerische, die lebens-künstlerische, die kreative, die nicht allein in Zahlen und Werten misst. Die voraussetzt, dass der Raum aus noch mehr besteht als Sichtachsen, Kontrolle und Statistik. Dass es vonnöten ist, sich frei im Raum zu bewegen, die Perspektive zu wechseln, zu weiten und zu erkennen, dass nicht jede Situation beherrschbar ist, sondern der Umgang mit ihr ein Lernprozess für das Auge jeden Betrachters.

Seine eigene Perspektive einzunehmen, sofern sie anderen Menschen nicht schadet, bedeutet, nicht stillzustehen, sondern sich im Raum zu bewegen, immer neue Möglichkeiten der Sicht wahrzunehmen. Eine Perspektive ist nie alternativlos. Die Silberakazie vor meinem Fenster wird auch Falsche Mimose genannt. Sie ist empfindlich. Sie bevorzugt statt Kälte und Frost lange, trockene Sommer wie den, auf den auch wir hoffen. Ich frage mich, frage mich inzwischen wirklich, unter welchen Umständen ich sie im nächsten Jahr blühen sehen werde.

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