Der nackte Taschenspieler

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Bob Dylan auf einem Konzert in Frankreich im Jahr 2012

Bob Dylan auf einem Konzert in Frankreich im Jahr 2012

Tief im Untergrund schürfen, Verscharrtes wieder ans Tageslicht bringen, aus dem toten Material die brauchbarsten Teile heraussägen, vernähen und mit Hilfe von Stromstößen zu neuem Leben erwecken – das beschreibt Bob Dylans Schreibprozess doch ganz akkurat. Zumal sich dieser in bald 60 Jahren kaum geändert hat, man denke nur an die super-eklektische Schurken-und-Helden-Galerie von „Desolation Row“ (1965).

Wenn der Maestro nun, auf seinem 39. Studioalbum, in seinem 80. Lebensjahr, eine bizarr-lustige Frankensteiniade veröffentlicht, könnte man sich also zuerst einmal fragen: „Warum denn erst jetzt?“ Leichenhäuser und Klöster habe er auf der Suche nach den nötigen Körperteilen besucht, singt Dylan in „My Own Version of You“. Eine Strophe weiter bramarbasiert er davon, den Pacino aus „Scarface“ und den Brando aus „Der Pate“ in einem Kessel zu vermengen und sich so – irgendwie, mit unwichtigen Details halte er sich nicht auf – seine eigene Roboterkommandotruppe zu bauen. Klingt nach Gangsta-Rap, nach schnoddriger Prahlerei junger Eckensteher.

Hat sich Dylan nicht bereits im ersten Song des neuen Albums frisch hintereinander weg mit Anne Frank, Indiana Jones und „them British bad boys, The Rolling Stones“ verglichen? „I Contain Multitudes“ heißt das Stück und wie könnte man seine Mannigfaltigkeit besser beweisen, als durch die absurd anmaßende, ja geradezu närrische Gegenüberstellung eines jungen Nazi-Opfers, eines fiktionalen Peitschenschwingers und seiner stur weiterrockenden Altersgenossen von jenseits des Großen Teichs?

In „Murder Most Foul“, der vom Album getrennten, 17 Minuten langen Single, fächert Dylan dagegen die dunklen Mannigfaltigkeiten der amerikanischen Gegenwart auf, mit den tödlichen Schüssen auf Präsident Kennedy als Big Bang.

Nie zuvor hat der notorisch verrätselte Barde seine Methoden derart nonchalant offengelegt wie auf „Rough and Rowdy Ways“ und selbstredend ist auch der Titel ein weiteres Zitat. Dylan hat ihn einem 90 Jahre alten Song von Jimmie Rodgers, dem singenden (und jodelnden) Eisenbahn-Bremser, entlehnt.

Alles nur geklaut? Aber ja doch! Von Shakespeare, der Bibel und Volkes Mund. Der Blues „False Prophets“ entpuppt sich als Fortschreibung von Billy „The Kid“ Emersons 1954er „If Lovin’ Is Believing“, einer B-Seite auf dem späteren Elvis-Label Sun Records. Dank an Tom Moon vom „National Public Radio“ für diese Erkenntnisfrucht, wir möchten uns revanchieren mit dem Hinweis, dass der Background-Chor des auf „False Prophets“ folgenden Songs „I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You“ die berühmte „Barkarole“ des Kölner Komponisten Jacques Offenbachs summt, wenn auch eher in der James-Last-Version.

Die Kunst des Zitats besteht in der Verfremdung des längst Bekannten, in der Schaffung abweichender Bedeutungen, im besten Fall darin, das Recycelte – Freude schöner Götterfunken – als neue Schöpfung zu verkaufen. Niemand beherrscht diese Kunst so souverän wie der widerwillige Träger des Literaturnobelpreises 2016. Das gilt seit ewig, was an „Rough and Rowdy Ways“ jedoch überrascht, ist die schonungslose Offenheit, mit der Dylan hier operiert. Wie ein Taschenspieler, der sich seiner Kleider entledigt hat, und dem man dennoch nicht auf die Schliche kommt. Am Ende ist die Nacktheit selbst der Trick.

Oder sollte man Dylans gleich zu Anfang aufgestellte Behauptung, er besäße ein verräterisches Herz, für bare Münze nehmen? Ob es sich nun um Selbstbespiegelungen, -anklagen oder um große geschichtliche Bögen handelt, wie sie nur wenigen und auch nur älteren Künstlern zu spannen vorbehalten sind: Dylan spricht hier nicht in Rätseln, ja er könnte kaum direkter sein. „Die Texte sind, was sie sind“, hat Dylan in seinem einzigen Interview zum Album gesagt, „sie sind greifbar, sie sind keine Metaphern. Die Songs kennen sich selbst und wissen, dass ich sie singen kann.“ Ob er deshalb auf „Rough and Rowdy Ways“ so schön – ein Adjektiv, das man zugegebenermaßen selten in Zusammenhang mit Dylans Stimme liest – singt, wie lange nicht mehr? Ob die endlosen Alben mit Frank-Sinatra-Standards, mit denen er uns seit 2012 hingehalten hat, nur Stimmübungen für dieses, vielleicht letzte, Meisterwerk waren? Egal, geschenkter Gaul.

Lauschen wir dem alten Propheten, er kennt zumindest seine Wahrheit. Wie Dylan in der feierlichen Anrufung „Mother of Muses“ singt: „Ihr wisst, wovon ich rede.“

2012 Foto

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