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Der Spießbürger als Mitläufer

Lesezeit 6 Minuten

„Alles frei erfunden!“ heißt es auf dem Deckblatt vor Beginn des ersten Kapitels. Das stimmt zumindest so kategorisch nicht. Es ist, um es im Mecklenburger Platt zu sagen, dessen sich Walter Kempowski in seinem Roman gern und oft bedient, „Wiesmakeree“ oder „Snackeree“. Will sagen: geschwindelt, nicht ganz der Wahrheit entsprechend. Denn vieles, eigentlich das Allermeiste in „Tadellöser & Wolff“ ist autobiografisch. Kempowski berichtet als Ich-Erzähler die vorwiegend in Rostock spielende Geschichte seiner Familie in den Jahren 1938 bis 1945. Es ist die Geschichte der Reeder-Familie Kempowski, durch und durch bürgerlich und, vor allem Vater Karl, stramm konservativ-national. Die Kempowskis sind angepasst und spießig, borniert und apolitisch, eine deutsche 08/15-Familie. Die Einnahme von Verdun durch deutsche Truppen im Juni 1940 findet man „irgendwie großartig“, und eines Tages werde man vielleicht auch ein Bild vom „Führer“ kaufen. „Vielleicht das im Mantel, wo er so von hinten guckt. Da sieht er ganz vernünftig aus.“ Er müsse wohl ein guter Planer sein, „der Herr Hitler“, ein Kümmerer sozusagen.

„Fabelhaft, wie das organisiert ist“, kommentiert in einer Schlüsselpassage Mutter Grete Kempowski, als zu Beginn des Krieges im Schulkeller „Volksgasmasken“ ausgegeben werden, und fragt besorgt, „ob Kinder auch eine haben müssten“.

Auf dem Klappentext meiner Ausgabe wird eine Rezension des US-Radiosenders RIAS Berlin zitiert: Man könne das von Kempowski selbst als „bürgerlicher Roman“ bezeichnete Buch als „Epilog“ auf jene Mittelschicht lesen, die „bei aller geistverlassenen Naivität der faschistischen Barbarei doch mehr Widerpart geleistet hat, als man es heute wahrhaben will“.

Nach Aufmüpfigkeit gegenüber dem Hitler-Regime oder gar nach grundsätzlicher Ablehnung des Nationalsozialismus muss man allerdings auf den 479 Seiten des Romans mit der Lupe suchen. Mal davon abgesehen, dass Robert, der Älteste, am liebsten Louis Armstrong und Tommy Dorsey hört und dafür bei der HJ gerüffelt wird. Und dass später auch Walter aneckt, weil auch er für „Nigger-Jazz“ schwärmt. Dass er sich als Pimpf als „Pissnudel“ beschimpfen lassen muss – geschenkt.

All das macht die Lektüre des Buches, vor allem wenn man es mit großem zeitlichem Abstand noch mal liest, aber nicht minder spannend. Als der Roman 1971 erschien, fielen große Teile des Feuilletons, im zeitbedingten Kontext nicht überraschend, über Kempowski regelrecht her. Ihm wurde vorgeworfen, er verniedliche das NS-Regime, schweige zum Holocaust und verurteile nicht Kriegsgräuel. Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen; auch ich habe „Tadellöser & Wolff“ damals mit zwiespältigen Gefühlen gelesen. Wo bleibt der Aufschrei gegen die Nazi-Barbarei? Was besagt es schon, dass Vater Karl, als er sich für die Front melden will, zunächst abgelehnt wird, weil er einer Freimaurer-Loge angehört? Und ist die Schilderung vieler grotesker Situationen angesichts der Millionen Toten in Konzentrationslagern und auf den Schlachtfeldern nicht zu „leicht“ und dadurch verharmlosend?

Beim Wiederlesen finde ich den Roman gerade wegen Kempowskis Erzählweise gelungen. Durch seinen Wortwitz und rücksichtslos scharfe Beobachtung lässt er die scheinbar heile Welt seiner Familie und das inhaltsleere Geplapper von Eltern und Geschwistern und den gezwungen-lustigen Dauerschnack am Esstisch als absurd erscheinen. Großartig nachempfunden wird die zum Schreien komische Atmosphäre in der Verfilmung von Eberhard Fechner. Der ZDF-Zweiteiler mit Karl Lieffen als Kempowski senior und Edda Seippel als seiner Frau war 1975 ein Publikumserfolg.

Karl Kempowski, Schiffsmakler und Reeder mit eigenem Kontor, ermöglicht der Familie, bis der Krieg auch nach Rostock kommt, ein vergleichsweise behagliches Leben. Allerdings nervt er mit seinen immer gleichen Witzchen und Kalauern die Kinder, vor allem Ulla und Robert, die beiden Großen. Der Reserveleutnant und freiwillige SA-Mann versucht mit Sprüchen wie „Klare Sache und damit hopp“ oder „Ansage mir frisch“ (Aufforderung zum Rapport über Schulnoten) seine Autorität zu behaupten. In den 70er Jahren galt es auf Partys und in Lehrerzimmern (Kempowski arbeitete seinerzeit selbst auch als „Dorfschulmeister“) als ausgesprochen cool, auswendig gelernte Zitate aus „Tadellöser & Wolff“ zum Besten zu geben, je sinnfreier desto lieber.

Schon der auf den ersten Blick rätselhaft erscheinende Titel des Buches sagt viel aus über Kempowskis Kunst des spielerischen Umgangs mit der Sprache. Kempowski senior war passionierter Zigarrenraucher und als solcher guter Kunde bei der Rostocker Tabakwarenhandlung Löser & Wolff. Um auszudrücken, dass etwas noch besser als tadellos war, kreierte er die Wendung „tadellöser“. Was schlecht oder ärgerlich war, hieß nach der gleichen Logik „Miesnitzdörfer & Jensen“, weil der alte Kempowski diese Zigarrenmarke verabscheute.

Als Romancier sieht sich Walter Kempowski in der Rolle des weitgehend neutralen Chronisten. Es ist gesagt worden, so schrecklich-komisch und gleichzeitig schaurig-schön wie in „Tadellöser & Wolff“ sei das Dritte Reich literarisch noch nie dargestellt worden. Als der Roman erschien, wäre mir diese Einschätzung zu freundlich gewesen; jetzt finde ich sie zutreffend. Ziemlich zu Beginn der Handlung fragt Walter als Neunjähriger seinen Vater beim sonntäglichen Spaziergang zum Kriegerdenkmal für die Gefallenen von „14/18“ unvermittelt, ob er als Soldat „auch welche totgeschossen“ habe: „Nicht dass ich wüsste“, so die lakonische Antwort. „Ich habe immer nur in die Richtung gehalten, wo so schwarze Punkte waren.“

Es sind diese oft übergangslos wie Collagen aneinandergereihten Schilderungen, die Beklommenheit erzeugen. Auf dem Schulweg kommen die Kinder regelmäßig an der ausgebrannten Synagoge vorbei, mit einem zerbrochenen Davidstern am gusseisernen Tor. „Da wohnen noch richtige Juden“, sagt Walters Freund Manfred. Eine Bemerkung, die einen frösteln macht. Offenherzig bedient Mutter Grete bei einer Zugfahrt mit den Kindern in den Harz antijüdische Ressentiments. „In der ersten Klasse lag ein dicker Mann auf den Polstern, der las einen Kriminalroman. Igitt, flüsterte meine Mutter, wie so’n dicker jüdischer Spion.“

Solche splitterhaften Episoden, zu einem Milieu-Mosaik zusammengefügt, bleiben im Gedächtnis. Etwa als Robert an Heiligabend 39, dem ersten Kriegs-Weihnachten, trocken bemerkt, dass die vorgeschriebene Verdunkelung ja auch ihr Gutes habe: Man könne doch jetzt vom Balkon aus den Großen Bären und das Siebengestirn erkennen. Die Schilderungen dieses detailgenauen Erzählers – etwa über den Einsatz der neuen Anti-Sonnenbrand-Emulsion „NU-BRA-NU“ („Nussbraun im Nu“) - verdichten sich zu einem Sittengemälde der Kriegsjahre in Deutschland. Der Roman ist deswegen nicht bloß eine Familiengeschichte. Er ist ein Epos über die Banalität des Bürgertums.

Schonungslos beschreibt Kempowski, wie zumindest die Roman-Mutter nichts begriffen hat. Als die Russen in Rostock einziehen, räsoniert sie auf ihrem Balkon: „Die Nazis sind weg, dieses Pack. Den Krieg haben wir gewonnen, die Kirche und die guten Kräfte. Irgendwie geht man ja sauber in die neue Zeit.“

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Fotos: Penguin Verlag, Wikimedia

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