Des Lebens Flüchtigkeit

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Als der Autor Wolfram Lotz vor rund zehn Jahren eine kuriose Aufzählung vergänglicher, vergessener, links liegen gelassener Dinge, zu einer lyrischen Liste namens „Fusseln“ zusammenstellte, war er noch nicht der „beste Dramatiker der Theatergegenwart“, als den ihn die „SZ“ vor einigen Wochen titulierte.

Auch hatte er den Text nicht als Vorlage für eine eventuelle Bühnenbearbeitung gemeint, es sollte ja eventuell noch nicht mal ein Text sein. Schließlich bezeichnet man als Fusseln jene Fasern, die sich aus dem Gewebe, der Textur eines Stoffes gelöst haben, und nun kleine, überschüssige Knötchen bilden, die man achtlos wegzupft, oder mit der Flusenbürste entsorgt.

Nun war es aber Lotz selbst, welcher der Regisseurin Charlotte Sprenger die Liste zwecks Uraufführung zusandte – und es macht ja auch Sinn, diese „Fusseln“ im Theater festzuhalten, dem gleichzeitig präsentesten wie flüchtigsten aller Medien.

Sprenger setzt auf der Deutzer Interimsbühne des Theaters der Keller den zarten Beobachtungen von in Pfützen schwimmendem Licht und im Knopfloch verwelkten Blumen die Wucht eines Chores entgegen (Co-Regisseur Frank Casali hat die Einstudierung des Chores besorgt). Das erscheint zunächst kontraintuitiv, aber der Fussel-Chor brüllt ja nicht anklagend im Soldatenmantel, im Gegenteil. Sprenger hat ihn mit 13 Studierenden der Schauspielschule der Keller besetzt und diese mit festlich glitzernden Leibchen angetan: Was wir sehen, sind junge Menschen, die sich gerade erst des Verlorengehens der Zeit und damit der eigenen Sterblichkeit bewusst geworden sind.

Rastlose Menschen, die nur selten lang in einer Formation verharren, sondern quer über das große, kulissenlose Spielquadrat schießen, und auch darüber hinaus; die nicht mehr mitkommen, die versuchen, bei der nächsten Wendung wieder ganz nach vorne zu kommen; die sich vom über sie hereinbrechenden Alltag gehetzt fühlen und von der tinderhaften Unverbindlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen.

Was immer wieder berührt. Zudem beweist Sprenger ein feines Gespür für den absurden Humor der Vorlage, für Lotz’ Kunstfertigkeit, den Text nie in Melancholie ertrinken zu lassen. Unweigerlich kommt jedoch der Punkt, an dem man sich fragt, wie lange das so weitergehen mag, wie viele Flüchtigkeiten aneinandergereiht werden müssen, bis man sagen kann: Es ist gut. Oder wie viele gruppendynamische Prozesse man mit 13 Darstellern durchspielen kann.

Das erweist sich im Nachhinein als just der Augenblick, in dem die 80-minütige Inszenierung überrascht an Tiefe gewinnt. Am eindringlichsten vielleicht, wenn sich der Chor auflöst, im Publikum verteilt, und die Lotz’schen Beschwörungen des Verweilens der kleinen Dinge einzelnen Zuschauern ins Ohr flüstert.

Nächste Termine: 9., 23.1.; 13., 28. 2., Theater der Keller, in der TanzFaktur, Siegburger Str. 233w

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