Die Bagger kommen näher

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Ist das noch Theater, wenn man ihm sein wichtigstes Charakteristikum nimmt: die Künstlichkeit? Wenn die Kulisse der Braunkohletagebau am Hambacher Forst ist, wenn die Protagonisten Bewohner aus den umliegenden Dörfern sind und der Antagonist der Energiekonzern RWE? Wenn das Drehbuch des Dramas also die bittere Realität ist? Eben dieses Experiment wagten Jörg Fürst vom A.Tonal.Theater, Rosi Ulrich vom theater-51grad und der Fotograf Matthias Jung am Samstagnachmittag im Rahmen des Theaterfestivals „Urbäng“unter dem Titel „Das Loch. Untergang und Utopie. Eine theatrale Exkursion ins Revier“.

Los geht es mit dem Bus von der Kölner Südstadt aus nach Kerpen-Manheim – das Dorf, das als nächstes von RWE „zurückgebaut“ werden soll. So nennt es der Energieriese euphemistisch, wenn ein Dorf abgerissen wird, um an die darunter liegende Braunkohle zu gelangen.

Ausgangspunkt des Projekts ist die Arbeit des Fotografen Matthias Jung. Seit Jahren fotografiert er die untergehenden Städte und ihre Bewohner im Braunkohlerevier zwischen Köln, Aachen und Düsseldorf. Gemeinsam mit Jörg Fürst und Rosi Ulrich will er nun Menschen die Entstehungsorte seiner Fotos erlebbar machen. Nicht als Zuschauer verstehen die drei ihr Publikum dabei, sondern vielmehr als Zeugen.

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Die erste Station des Parcours ist die Aussichtsplattform „Terra Nova“. Derjenige, der bei RWE für Namen und Fachterminologie zuständig ist, muss wohl entweder einen pechschwarzen Humor haben oder aber eindeutig zu viele Dystopien gelesen haben. Denn „Terra Nova“ – die neue Erde – ist ein riesiges Loch. Als stünde man am Rand eines neuen, lebensfeindlichen Planeten, so fühlt man sich, wenn man über die 380 Meter tiefe, braune, tote Masse vor sich blickt.

Auf der Weiterfahrt mit dem Bus tritt der erste Protagonist auf den Plan: Hubert Perschke von der Bürgerinitiative „Buirer für Buir“. Es sei gar nicht so leicht gewesen, solche Mitspieler zu finden, erzählt Jörg Fürst zuvor dem Publikum. Auch Perschke berichtet, dass seine Initiative vom Landesverfassungsschutz beobachtet werde. Weil die Mitglieder die Aktivisten im Hambacher Forst unterstützen, indem sie zum Beispiel bei ihnen zu Hause duschen dürfen. Dennoch haben sich zwei weitere Protagonisten bereiterklärt, ihre Geschichte zu erzählen. Stefan Leonards gehört der letzte Bauernhof in Kerpen-Manheim. Doch auch seinem Familienbetrieb kommen die Bagger immer näher: „Ich finde es ja toll, dass sich so viele Menschen für die Umwelt und die Tiere im Hambacher Forst einsetzen. Aber was ist mit den Menschen hier? Für uns ist das auch alles sehr schlimm, wir verlieren alles!“

Auch Inge Broska hat alles verloren, als RWE zwischen den Jahren 2000 und 2007 ihr Zuhause in Otzenrath im Abbaugebiet Garzweiler weggebaggert hat. Heute ist von Otzenrath nichts mehr übrig. Bis auf die Dinge, die Inge Broska dort vor dem Abriss gesammelt hat und heute in ihrem Hausmuseum ausstellt. Dazu gehören zum Beispiel Kehrbleche. Diese haben die Bewohner auf ihren Türschwellen in Otzenrath zurückgelassen, als sie gegangen sind.

Kerpen-Manheim steht nun das gleiche Schicksal bevor. Zu großen Teilen wurden die Bewohner schon nach Manheim-Neu umgesiedelt. Das Dorf ist ein Geisterdorf. An fast allen Häusern sind die Rollläden runtergelassen, ein Zeichen, dass hier niemand mehr wohnt. Ein seltsames Gefühl liegt über dem Dorf. Trotz der Menschenleere fühlt es sich an, als seien Generationen von Erinnerungen noch dort. Mit viel Einfühlungsvermögen und Feingefühl haben Jörg Fürst, Rosi Ulrich und Matthias Jung gemeinsam mit ihren Protagonisten Hubert Perschke, Stefan Leonards und Inge Broska ihr Publikum am Samstag zu Zeugen dieses untergehenden Dorfes gemacht. Die Utopie, die stets mit unterwegs ist an diesem Tag und schon im Titel der Veranstaltung mitschwingt, ist dabei die Hoffnung, dass die Bagger von RWE doch noch kehrtmachen und den Hambacher Forst und seine umliegenden Dörfer in Frieden lassen.

DAS FESTIVAL „URBÄNG“

„Urbäng“ ist ein Festival für performative Künste in Köln und fand in diesem Jahr vom 10. bis zum 13. Oktober statt. Gefördert wird es von der Stadt wie aus Mitteln des Landes und des Bundes. Im Mittelpunkt der Veranstaltung mit internationalen Künstlern stand in diesem Jahr der urbane Raum. (ReL)

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