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Die Geschichte alter Straßen„Wo Straßen gebaut wurden, folgten oft Armeen“

Lesezeit 6 Minuten
Hoch im Norden: Die Europastraße E69 in Norwegen

Hoch im Norden: Die Europastraße E69 in Norwegen

Herr Deen, Sie beginnen Ihr Buch mit einer Kindheitserinnerung. Damals waren Sie oft mit Ihren Eltern unterwegs, auf einer Route, die von London bis nach Moskau führt. Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch daraus werden zu lassen?

Es ist reine Nostalgie. Ich bin Jahrgang 1962. Sie sind ein bisschen jünger als ich. Wir beide gehören zur Generation „Rücksitz“. Wir haben uns Europa auf unseren Reisen im Auto vom Rücksitz aus angesehen. Mein Vater ist vor einigen Jahren verstorben, ich habe ihn sehr geliebt und seine Faszination für die alten Wege übernommen. Er hat zu jeder Straße eine Geschichte gehabt, diese alten Straßen wurden quasi zu einer Art Geschichtenabteilung.

Wie kam man auf die Idee mit den Europastraßen?

Das Ideal der Europastraßen ist über Jahrzehnte gewachsen. Es hat 1947 angefangen, es war ein Ideal für den Kontinent nach dem Krieg. Man wollte alte Feinde miteinander verbinden. Das Ideal gibt es noch immer. Ich habe es gespürt, dass man Frieden fördern kann durch gegenseitige Erreichbarkeit. 1950 hatten die Straßen mit der Vergangenheit zu tun, es waren die Straßen der Hauptstädte. Aber das reichte nicht mehr. Man benötigte eine abstrakte Systematik, um es noch weiter auszuweiten. Die E30 etwa macht die Hälfte einer transkontinentalen Straße vom Atlantik bis zum Pazifik aus, von einem Ende der Welt zum anderen. Von London nach Paris, nach Rom, all die Hauptstädte Europas passen in eine Geschichte, die wir alle teilen. Die E50 endet an der Grenze Chinas, nicht in einem Ort, sondern an einem Zaun. Man kann sich darunter nichts mehr vorstellen.

Warum haben die europäischen Straßen nicht so eine Bedeutung wie zum Beispiel die Route 66?

Die europäischen Straßen sind tausende von Jahren alt. Sie spielen keine Rolle in den sinnstiftenden nationalen Erzählungen. In den USA wurden die Straßen als Teil der Nationswerdung gebaut. Sie gehören zu den nationalen Mythen, die alle Amerikaner teilen. Hier gibt es hingegen keine „Früchte des Zorns“ und kein „nation building“ entlang der Straßen. Die europäischen Verkehrswege verdanken ihre Existenz der Migration, dem Handel und Eroberungen. Sie gehören niemandem und führen über einen zersplitterten Kontinent. Aber in Europa führen die großen Straßen auch einmal über das Terrain des Nachbarn, mit dem man schon mal Streit hatte. Wo Straßen gebaut wurden, folgten oft Armeen. Die überregionalen Routen brachten also selten etwas Gutes. Sie liegen in einem Europa, in dem es zwar auch Geschichten gibt, aber viele von ihnen möchte man doch lieber vergessen.

Sie führen Ihre Leser über alte Wege. Wo geht es los?

Zuerst habe ich Protagonisten gesucht, die durch Europa gereist sind. Dann habe ich versucht herauszufinden, wo sie gereist sind, welche Wege sie genutzt haben. Die ersten Reisenden vor 800 000 Jahren hatten keine Straßen, auf denen sie sich fortbewegt haben, es gab nur die Spuren der Tiere, denen sie folgten. Sie gingen der Küste entlang, folgten den Flüssen. Diese alten Wege den Flüssen entlang gibt es noch immer, etwa in Deutschland am Rhein, am Neckar entlang. Die Leute, die richtige Straßen gebaut haben, waren die Römer. Wenn man die heutigen Straßen mit den römischen vergleicht, sieht man, dass sie denselben Routen folgen.

Und diese Wege wollten Sie beschreiben?

Ich wollte in dem Buch nicht die Straßen, sondern die Menschen ins Zentrum rücken, die über diese alten Wege gegangen sind. Deshalb kann man sagen, ich habe ein Buch über alte Wege geschrieben. Man kann jedoch auch sagen, ich habe ein Buch über Menschen geschrieben, die über alte Wege gegangen sind. Die Straßen sind eine Metapher für die langen Reisen, die Menschen immer schon gemacht haben, auch schon in der Eisenzeit. In Dänemark habe ich zum Beispiel den Weg eines Mädchens aus der Bronzezeit verfolgt, 1500 Jahre v. Chr. Sie wurde von Archäologen mit Haaren, Zähnen gefunden, 18 Jahre war sie alt, als sie starb. In den letzten zwei Jahren ihres Lebens ist sie tausende Kilometer gereist.

Wo kamen die frühen Menschen her?

Die Archäologen sind sich einig, dass die Menschen in Europa von Osten her gekommen sind. Das kann man auch in den Genen der Menschen nachweisen. Durch die Zahnforschung kann man ungefähr sehen, wie die verwandtschaftlichen Verhältnisse der Urmenschen ausgesehen haben. Die Menschen aus Afrika sind erst nach Asien gegangen, von da aus kamen sie nach Europa. Das bedeutet zugleich, dass Europa ein schwer zu erreichender Kontinent gewesen ist. Die ältesten menschlichen Funde in Spanien sind 800 000 Jahre jünger als in Asien.

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Sie kamen erst spät nach Europa, weil es eher ein Endpunkt ist?

Das ist es, was die Archäologen in Frankreich festgestellt haben. Dort gab es einen Abt und sein Hobby war die Archäologie. Er hat Europa als eine Sackgasse der Prähistorie bezeichnet. Europa ist wie eine Halbinsel, es geht irgendwann nicht weiter. Menschen konnten sich hier nicht aus dem Wege gehen. Viele verschiedene Gruppen haben hier Heimat gefunden. Auch das ist charakteristisch für das heutige Europa.

Am Ende des Buches schildern Sie, wie Sie von Marokko hinüber auf Europa schauen.

Ich hatte bis dahin nicht realisiert, dass Europa eine Halbinsel ist. Wenn man in Marokko ist, kann man es aber am besten sehen. Es ist zudem der älteste Blick auf Europa. Der Homo erectus hat als Ansässiger in Nordafrika Europa gesehen, bevor der moderne Mensch nach Europa kam. Diese Frühmenschen kamen natürlich nicht rüber. Zumindest haben wir sie bislang nicht gefunden. Es ist ja heute noch sehr gefährlich, Europa über das Meer erreichen zu wollen.

Sie berichten von der Pilgerin Gudrid, die von Island über Köln nach Rom gegangen sein soll. War es angenehm zu der Zeit für Reisende?

Zumindest wird Gudrid von Köln begeistert gewesen sein. Es geschah um 1025 sehr viel in Köln. Für neue Gebäude werden die Reichen herangezogen, die sie finanzierten. Es war wie ein Frühling in der Christenzeit. Wer etwas bedeuten wollte, baute ein Gebäude, das größer war als die anderen. Gudrid hatte noch nie die Musik gehört, sie kam ja aus Island, noch nie hatte sie solche Gebäude wie in Köln gesehen. Das muss sehr beeindruckend gewesen sein für sie. Sie war noch nicht getauft, und bevor die Menschen Christen wurden, war die Welt voller Omen für sie.

ZUR PERSON

Mathijs Deen ist ein niederländischer Schriftsteller und Radiojournalist. Sein Romandebüt „Unter den Menschen“ erschien 2016 in den Niederlanden, im Frühjahr 2019 in Deutschland

„Über alte Wege. Eine Reise durch die Geschichte Europas“, deutsch von Andreas Ecke, DuMont, 416 Seiten, 24 Euro.

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