Die Leiche unter der Düne

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Die Idylle trügt: Auf einem Campingplatz laufen die Dinge aus dem Ruder.

Die Idylle trügt: Auf einem Campingplatz laufen die Dinge aus dem Ruder.

Ein Camping-Urlaub in Südfrankreich. Volle Strände und feiernde Jugendliche. Doch wie in vielen Idyllen, trügt dieser Schein. Während am Strand die Jugendlichen feiern, hat sich der 17-jährige Léonard in sein Zelt zurückgezogen. Partys, Alkohol, Tanzen – all dies ist im zuwider. Seine einzige Freude an diesem Ferienort sind seine nächtlichen Spaziergänge. Dabei wird er jedoch stiller Zeuge des Selbstmordes von Oscar, der sich mit den Seilen einer Schaukel erdrosselt, und verscharrt noch in Trance die Leiche am Strand. Aufgewühlt von den nächtlichen Ereignissen stellt sich am nächsten Tag die Frage, ob er gestehen wird, während er gleichzeitig beginnt Interesse für Luce, die Freundin des toten Jungen, zu entwickeln.

Mit diesem grausamen Ereignis beginnt der Roman des französischen Autors Victor Jestin. Gleich der erste Satz wirft die Schuldfrage auf: „Oscar ist tot, weil ich ihm beim Sterben zugesehen habe, ohne mich zu rühren.“ Der Ich-Erzähler scheint von seiner Schuld überzeugt, da er den Suizid eines Jugendlichen reglos hat geschehen lassen. Vom Stil erinnert der Einstieg an Kafkas berühmten ersten Satz aus „Der Prozess“, in dem Josef K., „ohne dass er etwas Böses getan hätte“, verhaftet wurde. Was Kafkas Werk uns lehrte, zieht sich durch die knapp 160 Seiten des Romandebüts: Die Schuldfrage ist weder einfach zu beantworten, noch sind die Sympathien zu unterdrücken, die man für diesen Anti-Helden empfindet.

Léonard ist ein sozialer Außenseiter. Er passt nicht in das Setting des ausgelassenen Camping-Urlaubs und ist im Vergleich zu seinen gleichaltrigen Freunden sehr unbeholfen, besonders gegenüber Frauen. Doch die fatale Nacht wirkt sich auf seinen letzten Tag im Camp aus. Plötzlich scheint ein Mädchen Interesse an ihm zu zeigen, er kann sich ihr langsam annähern und trotz der absurden Umstände einen Hauch Leichtigkeit verspüren. Fast gönnt man ihm als Leser diese Alltagsflucht. Doch hat man – wie auch der Protagonist – die Leiche, die unter der Düne begraben ist, immer im Hinterkopf.

Der gesamte Roman umschreibt eine Dauer von etwa einem Tag. Doch zwischen den Erlebnissen liegen Welten: von Leben und Tod bis zu Angst und Versuchung. Die sorglose Camping-Welt wird mit den Folgen des Klimawandels, fragwürdigen Moralvorstellungen und Erwachsenwerden konfrontiert. Gerade dadurch gewinnt die Geschichte existenzielles Gewicht, fast wie in den Romanen von Albert Camus. Dies findet sich auch in der drängenden Sprache des Autors wieder, die den Leser zwingt, das Buch nicht aus der Hand zu legen. Kein Wunder also, dass der erst 25-Jährige mit seinem Debüt in Frankreich für viel Wirbel gesorgt hat.

Bleibt also letztlich nur die Flucht, um sich von der Schuld zu befreien? Léonard entscheidet sich für den Weg der Konfrontation. Und doch bleibt am Ende die Aussicht, dass sein Bekenntnis den Rhythmus des Lebens, wie es in dem Song der italienischen Band Corona „Rhythm of the Night“ in der letzten Szene über den Campingplatz schallt, nicht ändern wird: Nichts zu unternehmen, wenn Courage gefordert ist. Sich der Verantwortung zu entziehen, weil es leichter ist, die Schuld bei anderen zu suchen. Die Krise zu verdrängen, um wieder in die Normalität zurückzukehren.

Der Wunsch nach so etwas wie Normalität geht in Léonards Fall nicht in Erfüllung, der Rhythmus dieser Nacht lässt ihn nicht los. So mag man diesem Roman zumindest eines zur Bewältigung der öffentlichen und persönlichen Krisen dieser Zeit abgewinnen: Tapferkeit als Mittel gegen die Angst.

DAS BUCH

Victor Jestin, „Hitze“, aus dem Französischen von Sina de Malafosse. 160 Seiten, 20 Euro.

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