Dokumentation im StreamBeeindruckender Zweiteiler zeigt das Steinkohle-Ende in Europa

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Die Steinkohle

Ein Bergmann in den frühen Jahren der Steinkohleförderung.

Köln – Vielleicht wird es in hundert Jahren einen Dokumentarfilm über das Ende des Digitalisierungs-Zeitalters geben. Mit Sequenzen aus dem Silicon Valley, historischen Aufnahmen von Steve Jobs und Mark Zuckerberg. Und Historiker werden analysieren, wie Smartphones und Notebooks, Facebook, Instagram und Twitter die Menschheit verändert haben. Vielleicht hat sie den Klimawandel aufgehalten, die Erderwärmung begrenzt. Ein Sprecher wird sagen, dass es ohne Digitalisierung diese neue moderne Gesellschaft nicht gegeben hätte. Unsere Kinder und Kindeskinder werden sich verwundert die Augen reiben. Gab es sie wirklich, die vordigitale Gesellschaft? Und kam dieser Wandel wirklich einer Revolution gleich?

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Wir wissen es nicht. Weil wir Zeitzeugen sind, die sich mitten in dieser Umwälzung befinden, an der Schwelle des ausgehenden Industriezeitalters. Das ZDF und Arte haben dem Ende des Steinkohle-Bergbaus in Deutschland, der mit Schließung der Bergwerks Prosper Haniel in Bottrop am Freitag nach mehr als 200 Jahren endgültig Geschichte ist, eine beeindruckende zweiteilige Dokumentation gewidmet. Sie ist empathisch, aber nicht rührselig. Natürlich kommt auch sie nicht ohne das Steiger-Lied in der Arena auf Schalke, ohne den Mythos vom legendären Zusammenhalt der Kumpel unter Tage und die Schalker Fußball-Legende Ernst Kuzorra aus.

Grundlage der modernen Gesellschaft

Doch im Gegensatz zu vielen anderen Dokus, die in diesen Tagen ausgestrahlt werden, hält sich Regisseur Jobst Knigge nicht mit der Folklore auf. Sein Thema ist größer und der Bedeutung des Ereignisses angemessen. Knigge dokumentiert den Steinkohle-Bergbau in Europa, namentlich in Großbritannien, Frankreich, Belgien und Deutschland als das, was er wirklich war – die Grundlage der modernen Industriegesellschaft. Mit all ihren Begleiterscheinungen. Die Kohle bedeutet Fortschritt und Wohlstand, Krieg und Macht, Ausbeutung und Gefahr, Umweltzerstörung, Frieden, Wandel und Identität. Alles das macht sie zum „Drachenfutter des Industriezeitalters“.

Die Kohle schafft eine Arbeiterklasse, ist Grundlage der sozialen Gerechtigkeit und wird nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Montanunion zur Quelle der europäischen Einigung. Ohne den Bergbau hätte es keine moderne Gesellschaft gegeben. Eine neue Zeit stelle manche dieser Errungenschaften in Frage, heißt es in der Dokumentation. „Mutige Unternehmer und kampfbereite Kumpel haben ihre Länder in der industriellen Revolution groß gemacht. Nun braucht es neue Revolutionen.“

Bergleute haben immer gekämpft

Es sind beeindruckende historische Bilder aus den Bergbauregionen Europas, die durch über zwei Jahrhunderte eines ganz deutlich belegen: Die Bergleute haben immer gekämpft, um ihre soziale Stellung, um Mitbestimmung, sie sind die Keimzelle des Proletariats, erkämpfen die erste Sozialgesetzgebung in Preußen, bilden mit ihrem Streik von 1889 die Keimzelle der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, in der roten Ruhrarmee im März 1920 gegen Reichswehreinheiten, dem einzigen großen Aufstand in Deutschland seit den Bauernkriegen.

Sie wehren sich in Frankreich 1941 gegen die deutsche Besatzung, führen unter der Thatcher-Regierung in Großbritannien 1984 ein Jahr lang einen aussichtslosen Kampf gegen die Zeitenwende, an dessen Ende 180.000 von ihnen auf der Straße stehen. Das Ausmaß der Zerstörung der britischen Industrie ist unbeschreiblich.

In Deutschland wird der Steinkohle-Bergbau sozialverträglich abgewickelt. Das Ende beginnt in den 1960er Jahren und kommt schleichend daher. Mit billiger Importkohle und dem neuen Treibstoff der Industrie – dem Öl. Die Ölkrise mit dem Sonntagsfahrverbot 1973 und die folgenden scheinen kurzzeitig eine Renaissance zu ermöglichen. Doch am Ende wird die Steinkohle vom Retter der Nation nach dem Zweiten Weltkrieg zur nationalen Aufgabe. In den 1950er Jahren wird die Arbeit unter Tage endgültig zum Mythos über die Grenzen hinweg. Mit der Montanmitbestimmung 1951 ändert sich die Gesellschaft erneut. Es ist eine Zeitenwende. Die Bergleute entscheiden mit über Arbeitsabläufe, Sicherheit und Bezahlung. Nur ein Jahrzehnt später beginnt der Niedergang, doch die Nation zeigt sich solidarisch mit dem Bergbau und subventioniert ihn am Ende mit bis 3,5 Milliarden Euro pro Jahr.

Gelungene Dokumentation

Der Bergbau ist auch immer Teil großer Migrationsbewegungen. Es kommen die Polen vor allem aus Masuren an die Ruhr. Bis in die 1970er Jahre sind es dann Zehntausende Gastarbeiter vor allem aus der Türkei, die die immer noch harte Arbeit unter Tage verrichten. „Wir haben unseren Ausbilder nur einmal gefragt, ob wir nicht auch umschulen können. Nicht Bergmann, sondern Schlosser oder Elektriker“, erinnert sich Mikail Zopi, der als 16-Jähriger vom Bosporus an die Ruhr kam. „Das werde ich nie vergessen. Dann kriegt ihr eine Briefmarke an den Arsch geklebt. Dann könnt ihr dahingehen, wo ihr hergekommen seid. Wir haben uns umgedreht, raus, und haben das nie wieder angesprochen.“

Jobst Knigge ist eine Dokumentation gelungen, die sich nicht gemein macht mit den Bergleuten. Sie verdienen seine uneingeschränkte Anerkennung, aber er biedert sich nicht an. Er dokumentiert sie als das, was sie noch sind und waren: hart arbeitende Menschen, die trotz ihrer Leistung über viele Jahrzehnte von Segnungen des Wohlstands ausgeschlossen blieben, weil sich die Klassengesellschaft in Deutschland trotz aller Wirtschaftskrisen, zweier Weltkriege und Katastrophen bis in die 1950er Jahre als sehr stabil erwies. Es ist auch die Dokumentation eines krassen Missverhältnisses zwischen jenen, die den Fortschritt durch ihre Arbeit unter Tage erst ermöglichten, und jenen, die davon profitierten.

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