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Er kannte Totalitarismus von links wie von rechts

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Papst Johannes Paul II. nach seiner Wahl 1978

Papst Johannes Paul II. nach seiner Wahl 1978

Santo subito! Die nach Millionen zählende Menge auf dem Petersplatz in Rom war ihrer Zeit voraus, als sie direkt nach dem Tod Papst Johannes Pauls II. am 2. April 2005 dessen Heiligsprechung forderte. Üblicherweise lässt sich die katholische Kirche vor einem solchen Schritt Zeit und bezieht damit das Urteil der Geschichte ein. Zum 100. Geburtstag Karol Wojtylas am 18. Mai 2020 haben der Kirchenkenner Matthias Drobinski und der Polen-Experte Thomas Urban (beide seit langem bei der „Süddeutschen Zeitung“ tätig) eine Biografie vorgelegt, die sich – so gut es nach 15 Jahren geht – um diese Distanz bemüht.

In ihrer Darlegung wird klar: Johannes Paul II. gehört bleibend zu den großen Päpsten der Kirchen- und der Profangeschichte. Die Autoren zeichnen zum einen die enge Verschränkung seines Lebenswegs mit „der“ Katastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Zweiten Weltkrieg, dem Rassenwahn der Nationalsozialisten mit dem Völkermord an den europäischen Juden nach. Zum anderen heben sie sein Wirken beim Zusammenbruch der sozialistischen Diktaturen im Ostblock und der Neuordnung der Welt an der Wende zum dritten Jahrtausend in gebührendes Licht.

Die Erfahrung des Totalitarismus von rechts wie von links hat Karol Wojtyla entscheidend geprägt. Der christliche Glaube und seine Verwurzelung in der katholischen Kirche waren für ihn die Gegenwelt – Kraftquelle, Rückzugsraum und zugleich Freiheitshorizont. Sein persönliches Erleben überwölbte er mit einem philosophisch-theologischen Gebäude, das – in seinen Grundzügen bereits früh errichtet – über die Jahrzehnte so gut wie unverändert blieb. Dazu gehört ein „christlicher Humanismus“, den er sowohl dem Kommunismus als auch dem Kapitalismus entgegengesetzte. Das wahre Bild vom Menschen und die Erfüllung seiner Bestimmung ist in der göttlichen Offenbarung zu finden, wie sie von der katholischen Kirche in deren Selbstverständnis authentisch und autoritativ vorgelegt wird: „Jede Abweichung“, schreiben die Autoren, „gefährdete tendenziell die Menschenwürde und war entsprechend zu bekämpfen“.

Hieraus leiten sie schlüssig jene innerkirchliche Unerbittlichkeit und Intransigenz ab, derentwegen Johannes Paul II. schon zu Lebzeiten von seinen Anhängern verehrt, von seinen Gegnern verdammt wurde. In der Sicht des Papstes kann die Kirche „nur als geschlossene Gemeinschaft bestehen“. Zweifel und Fragen sind in seiner Sicht „nichts als Einfallstore der Gegner“.

Am Beispiel der Sexualmoral und der von Wojtyla entwickelten „Theologie des Leibes“ wird das besonders deutlich. Es ist so eindrucksvoll wie irritierend zu lesen, dass sich dieselben Formulierungen mit der Ablehnung jeglicher sexuellen Praxis außerhalb der (christlichen) Ehe von den späten 1940er Jahren bis in die Schlussphase des Pontifikats durchziehen. Die Autoren lassen es offen, ob sie darin eher Konsequenz oder Obsession sehen. Aber immerhin benennen sie die Diskrepanz zwischen dem emanzipatorischen Anspruch der päpstlichen Lehre und ihrer – insbesondere für die Frauen – bevormundenden, letztlich entmündigenden Wirkung.

In welche Abgründe das führen kann, bleibt ebenfalls nicht unerwähnt. Die „eigene Schuld und Mitverantwortung“ Johannes Pauls II. für den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche führen Drobinski und Urban auf das Kirchenverständnis des Papstes zurück, „dass diese Kirche rein und stark und glänzend dastehen müsse, um in den Auseinandersetzungen zu bestehen“. Sie musste „um jeden Preis mächtig und heilig bleiben“. Deswegen blendete der Papst aus, dass es auch in der Kirche „Strukturen der Sünde und der Gewalt“ gibt.

Ganz generell bestimmt das „Einerseits, andererseits“ die Beschreibung und die Bewertung Johannes Pauls II., die hierin deutlich Drobinskis abwägend-vermittelnde Handschrift tragen. „Die Versuche der Linken, den Kapitalismuskritiker und Pazifisten zu loben und den Abtreibungsgegner zu verdammen; die Vereinnahmungsversuche der Rechten, den Abtreibungsgegner zu heiligen und den Kapitalismuskritiker und Kriegsgegner zu ignorieren – sie werden diesem Menschen nicht gerecht, der sich ganz und gar bei sich und seinem Gott sah.“

Besonderen Wert legen die Autoren auf die geistigen Wechselwirkungen zwischen Wojtyla und seinem Heimatland. An dem ihm eigenen, tief eingeprägten polnischen Nationalismus wurde der Papst in seiner letzten Lebensphase irre, als seine Landsleute die gewonnene Freiheit nicht in dem von der katholischen Kirche gewünschten Sinne wahrnahmen, sondern in ihrer Lebensführung und ihren Wertvorstellungen eigene Wege gingen. In der Beschreibung dieses Bruchs werden sowohl Urbans Expertise als langjähriger Osteuropa-Korrespondent als auch die intensive Nutzung polnischer Quellen wirksam. „Der Papst, der aus dem Osten kam“, heißt nicht von ungefähr der Untertitel der Biografie, die – wenn man so will – auch ihrerseits aus dem Osten kommt. Gerade weil sie in dieser Hinsicht so luzide ist, hätte man sich eine Ausleuchtung in gleicher Tiefe auch für manche spezifisch „deutschen Themen“ gewünscht. Allerdings (ein Lieblingswort der Autoren) ist dazu inzwischen fast alles auch schon andernorts gesagt. Drobinski und Urban würdigen die historischen Verdienste des Papstes, holen ihn vom Sockel abgöttischer Verehrung, sie retten ihm aber auch den Heiligenschein. Matthias Drobinski/Thomas Urban: Johannes Paul II. – Der Papst, der aus dem Osten kam. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2020, 336 Seiten, 24,95 Euro.

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