Gastbeitrag: Ein Brief an Armin Laschet„Ich empfinde das als aktive Sterbehilfe“

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Renan Demirkan, geb. 1955, ist Schriftstellerin und Schauspielerin.

  • In einem dramatischen offenen Brief an NRW-Ministerpräsident Armin Laschet schildert die Autorin und Schauspielerin Renan Demirkan die Folgen der Corona-Krise für sie und alle Kollegen über 60.
  • Sie würden aus Drehbüchern und von Besetzungslisten gestrichen.
  • Laut unserer Gastautorin Renan Demirkan ergibt es überhaupt keinen Sinn, andere Berufsgruppen und Altersgruppen zu ignorieren, zu stigmatisieren – oder sogar zu eliminieren.

Lieber Herr Laschet, vorab möchte ich mich als Bürgerin dieser Republik und des Landes NRW für das tief humane Seuchenmanagement bedanken. Deutschland hat gezeigt, dass Humanität im Bewusstsein der Politiker und Politikerinnen wie auch der Bürger und Bürgerinnen Priorität hat. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich in diesem Land leben darf. Und Ihnen persönlich danke ich auch für Ihre Sprache, die nie aufwiegelt, keine Angst schürt und – für mich ganz besonders wichtig – nie tendenziös ist.

Die aktuelle Ausnahmesituation ist für alle extrem belastend. So richtig es ist, dass die Dienstleister in unserer Gesellschaft endlich gewürdigt werden – hoffentlich auch sehr bald würdig entlohnt sind –, so ergibt es demgegenüber überhaupt keinen Sinn, andere Berufsgruppen und Altersgruppen zu ignorieren, zu stigmatisieren – oder sogar zu eliminieren.

Ja, Sie haben richtig gelesen: eliminieren! In dieser Woche kam eine Nachricht von meiner Agentin, dass über 60-Jährige aus Drehbüchern herausgeschrieben würden. Bereits besetzte ältere Schauspielerinnen und Schauspieler erhielten Absagen, weil sie in die Corona-Risikogruppe fallen.

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Bislang weigern sich Versicherer, die Corona-Pandemie als Ausfallgrund anzuerkennen

So schrumpfen TV- und Film-Produktionen die Ensembles gerade auf „jung“ zusammen. Viele Filmprojekte werden gecancelt. Normalerweise gibt es dafür Versicherungen. Doch bislang weigern sich die Versicherer, die Corona-Pandemie als Ausfallgrund anzuerkennen. So bleiben die Produzenten auf ihren – wie Sie wissen – extrem hohen Kosten sitzen. Deshalb besetzen sie keinen mehr aus der Risikogruppe.

Nach einem Tag Schockstarre habe ich das ZDF und den WDR angeschrieben und auch den Deutschen Kulturrat, dass dieses Thema dringend auf die kulturpolitische Agenda kommen müsse. Während Alexander Bickel, Leiter des Programmbereichs Fernsehfilm, Kino und Serie beim WDR, mir antwortete, derartige Vorgaben gebe es bei seinem Sender nicht, habe ich vom Castingchef des ZDF, Michael Ludwig, erfahren, dass dort zwar niemand herausgeschrieben werde, dass die Drehtage aber sehr wohl auf das Notwendigste reduziert würden. Im Versicherungsfall werde das ZDF sich mit 50 Prozent an den Ausfallkosten beteiligen. Was großartig ist. Aber nicht genug.

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Bis Ende des Jahres werde ich – trotz meiner drei Berufe – kein Einkommen haben. Theater sind geschlossen, die Lesungen abgesagt, der Unterricht auf unbestimmte Zeit verschoben. Das alles hatte ich für mich schon irgendwie sortiert. Aber diese neue schlechte Nachricht nimmt mir nun tatsächlich jede Zuversicht und – vor allem – in einem ungekannten Maß den Halt im Leben und den Glauben daran, dass es irgendwie schon gut werden wird! Jetzt fühle ich mich nicht nur „nicht systemrelevant“, sondern schlicht systemirrelevant und – überflüssig.

Es wird nicht gut werden. Jedenfalls nicht so und nicht für mich und all die anderen, die 60 und älter sind. Ich habe kein Interesse an Skandalisierung. Ich möchte vielmehr für ein Problem sensibilisieren, das ja nicht nur „ein paar Alte“, betrifft, sondern der ganzen Generation der vor 1960 Geborenen durch pandemische Stille in den Studios den Garaus zu machen droht. Deshalb bitte ich Sie: Intervenieren Sie bei den Versicherungen – mit dem Ziel der Sicherheit für eine ganze Berufsgruppe!

Ich bin mir nicht sicher, ob sich Nichtkünstler ein Künstlerleben wirklich vorstellen können. Ob auf der Bühne oder auf der Leinwand; ob in Büchern oder Bildern; ob als Musiker oder Komponisten: Das, was wir tun, das sind wir – uneingeschränkt und ohne Altersgrenze! Wenn ich nun nicht mehr sein darf, was ich bin, weil ich im Sommer 65 werde, dann ist das weit mehr als „nur“ Betätigungs- oder Einkommensverlust, mehr als Demütigung und Isolation: Ich empfinde es als aktive Sterbehilfe, wenn ich auf das pure Überleben reduziert werden soll.

Zur Person

Renan Demirkan, geb. 1955, ist Schriftstellerin und Schauspielerin. Sie ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und des Bundesverbands Schauspiel (BFFS).

2016 initiierte Demirkan die Gründung des Vereins „checkpoint: demokratie“, dessen Vorsitzende sie bis heute ist.

Das Coronavirus wird sicher noch viel mehr verändern, als es bereits getan hat. Viele Kolleginnen und Kollegen setzen auf Online-Formate. Ich aber habe mich mit der virtuellen (Selbst-) Darstellung nicht anfreunden können, weil Kunst für mich immer ein physisches Erlebnis aller Beteiligten voraussetzt. Wir brauchen „das Weiß im Auge des Gegenübers“, um Emotionen und Inhalte nachhaltig speichern und vermitteln zu können.

Den Kulturraum ersetzt keine virtuelle Schaltkonferenz

Das sagt schon die Primatenforschung. Was bedeutet: In der analogen Kommunikation werden wir zu gemeinsamen Zeitzeugen und zu Verbündeten in einer gemeinsamen ästhetischen und physischen Resonanz-Sphäre. Auch genannt: Kulturraum! Und den ersetzt keine virtuelle Schaltkonferenz.

Wie wird es für uns weitergehen? Wird eine „Corona-Selektion“ Menschen ab 60 – Künstler, Kreative – in Reservate umsiedeln? In dem Fiction-Film „Soylent Green“ von 1973 wurden öffentliche Tötungsanstalten eingerichtet. Weil die Lebensmittelvorräte zur Neige gingen, wurden alte Menschen zu grünen Chips verarbeitet und als Nahrung verteilt. Solch einen Horror müssen wir hoffentlich nie befürchten. Aber dennoch: Irgendwer muss die Fragen meiner Generation beantworten. Ich brauche – wir brauchen – wieder Zuversicht, Halt und eine Perspektive. Können Sie uns diese bitte geben?

Mit besten Wünschen für Ihre Gesundheit!

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