Gastbeitrag zu 1700 Jahre jüdisches Leben in KölnNot macht erfinderisch

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Die Baustelle des Jüdischen Museums auf dem Kölner Rathausplatz      

Köln – Was machen Mitglieder eines Stadtrats, wenn sie ökonomisch nicht mehr in der Lage sind, ihre Verpflichtungen zu erfüllen? Sie suchen nach Mitteln, um die Situation zu verbessern, selbst wenn es Mittel sein sollten, die sie lange abgelehnt hatten.

Genau dies geschah im Jahr 321 n. Chr. in Köln. Die Dekurionen der Stadt – so nannte man die Mitglieder des Rats – schrieben an Kaiser Konstantin, er möge ihnen erlauben, jüdische Mitbürger in den Stadtrat zu berufen. Sie waren erfolgreich. Am 11. Dezember 321, also an diesem Samstag vor 1700 Jahren, erließ der Kaiser ein Gesetz, mit dem er ihnen erlaubte, Juden in den Rat, die Kurie, zu kooptieren und damit in die Verantwortung für das Funktionieren der Stadt einzubeziehen.

Wie kam es dazu? Denn wir dürfen voraussetzen, dass die Kölner wie Ratskollegen anderswo im Reich lange Zeit keine Juden im Rat gewollt hatten. Oft sah man sie als eine Minderheit an, die sich nicht in die Mehrheitsgesellschaft eingliederte. Ihr Monotheismus vertrug sich nicht mit den Göttern der paganen Welt, auch nicht mit der kultischen Verehrung der vergöttlichten Kaiser. Da überall im öffentlichen Leben, auch vor Stadtratssitzungen, geopfert wurde, konnten Juden wegen ihrer Religion daran kaum teilnehmen. Unter diesen Umständen blieb man lieber unter sich und holte keine jüdischen Mitglieder in die Kurie. Warum dann 321 der Sinneswandel?

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Die Stadträte waren für das Funktionieren der Gemeinde verantwortlich, aber auch für den Einzug der staatlichen Steuern; denn staatliche Finanzämter gab es damals nicht. Jährlich musste dem Fiskus eine fixe Summe abgeliefert werden. Berechnungsgrundlage war das Territorium, das zur Colonia Agrippinensium gehörte, mehr als 7000 Quadratkilometer von Remagen bis Krefeld und Aachen (heute sind es rund 400).

Auf dieses Land wurden die Steuern erhoben, die sich nach einem fixierten landwirtschaftlichen Ertrag bemaßen. Dort lag auch der Grundbesitz der Dekurionen – die Basis ihrer sozialen und politischen Stellung –, den sie sogar genau nachweisen mussten. Dieser Besitz war weitgehend verpachtet; die Pacht sicherte das Einkommen und damit die Stellung der Ratsmitglieder – solange Friede herrschte.

Doch seit Mitte des dritten Jahrhunderts wurde das linksrheinische Gebiet von Germanen immer mehr bedroht. Bauerngehöfte und Siedlungen wurden geplündert, der Besitz geraubt, Menschen getötet oder als Sklaven verschleppt. Unter diesen Bedingungen ging der wirtschaftliche Ertrag auch der Dekurionen zurück. Auch konnten sich wegen der Unsicherheit der Zeit manche Familien nicht mehr im Rat halten. Neue zu finden, die die wirtschaftlichen Voraussetzungen besaßen, wurde immer schwieriger. So mussten weniger Stadträte, die unter dem Druck der unsicheren Verhältnisse standen, die Lasten tragen.

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Schließlich erschien den Dekurionen die Lage so katastrophal, dass sie sich zu einem radikalen Schritt entschlossen. Sie wussten aus den Steuerunterlagen, dass in der Colonia jüdische Mitbürger lebten, die ein Vermögen besaßen, das sie für den Rat qualifizierte. Bisher hatte man sie übergangen; jetzt aber sah man, dass sie als Mitglieder der Kurie die Lasten der anderen erleichtern könnten. So vergaß man alle Vorurteile und wandte sich an einzelne Juden.

Doch das Unerwartete trat ein: sie lehnten ab und erklärten auch warum: Seit mehr als 300 Jahren hätten sie das Privileg, sich an nichts beteiligen zu müssen, was mit ihrer Religion kollidierte. Das aber wäre mit einem Sitz im Rat verbunden, deshalb müssten sie ablehnen. Wegen der Privilegien konnten die Stadtväter die angesprochenen Juden nicht zwingen. Somit blieb nur der Kaiser, um zu entscheiden, ob die Privilegien weiterhin Juden davor schützten, sich an den Gemeindeaufgaben der Dekurionen zu beteiligen.

Man schrieb an Konstantin, der sich in Viminacium, nicht weit vom heutigen Belgrad entfernt, aufhielt. Die Antwort wurde in der kaiserlichen Kanzlei am 11. Dezember abgeschlossen und nach Köln gesandt. Im Winter dauerte das einige Zeit. Der Brief wurde in Köln mit Freude aufgenommen, da der Kaiser den Dekurionen gestattete, Juden auch gegen deren Willen in den Rat zu berufen.

Es wurde damals also nicht den Juden erlaubt, in den Rat einzutreten, wie es, auch im Jahr 2021, immer wieder behauptet wurde. Den Teil der Privilegien, der alle Juden vor solchen Aufgaben geschützt hatte, hob er auf, jedoch nicht ganz. Auch in Zukunft konnten zwei oder drei aus der jüdischen Gemeinde sich darauf berufen. Alle anderen Privilegien blieben erhalten.

Man muss fragen, warum Konstantin so entschied. Es war schlicht die fiskalische Not; deshalb hob er ähnliche Privilegien auch christlicher Kleriker auf, die sie erst wenige Jahre vorher erhalten hatten. Der Kaiser war auf ein loyales Heer angewiesen, um das Reich gegen auswärtige Feinde zu verteidigen. Das Heer aber musste bezahlt werden, deshalb hatten die Dekurionen den Eingang der Steuern zu garantieren. Funktionierte der Einzug nicht mehr, war die Sicherheit des Reichs in Gefahr.

Bisher hatten sich jüdische Bürger aus religiösen Gründen von munizipalen Aufgaben fernhalten können. Doch damals waren Opfer schon weitgehend aus dem öffentlichen Leben Kölns verschwunden, wie weithin im Reich. Damit entfiel der Grund für die Privilegierung. Konstantin handelte pragmatisch.

Was aber geschah in Köln nach der kaiserlichen Entscheidung? Das wissen wir nicht. Denn der Erlass ist das einzige Zeugnis, das von der Anwesenheit von Juden in Köln im Jahr 321 berichtet. Das Brieforiginal ist nicht erhalten, den Text kennen wir aus dem Codex Theodosianus, einem Gesetzbuch aus dem Jahr 438, von dem eine Abschrift in der Vatikanischen Bibliothek in Rom erhalten ist.

Gerade der Inhalt dieses Erlasses aber zwingt zu der Erkenntnis, dass die ersten Juden nicht erst 321 in Köln angekommen sind. Sie lebten hier nach aller historischen Wahrscheinlichkeit schon weit länger, vermutlich schon seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus. Man hätte somit 2021 mehr als 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland begehen können.

Der Autor dieses Beitrags, 1939 in Nürnberg geboren, lehrte von 1979 bis 2007 als Professor für Alte Geschichte an der Uni Köln. Er ist Herausgeber der im Greven-Verlag erscheinenden mehrbändigen Kölner Stadtgeschichte.

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