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Gastbeitrag zu China im LockdownWo die Bauern per Livestream verkaufen

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Blick in die Ausstellung „Gwangju Lessons“ der Kölner  Akademie der Künste der Welt

  • Mi You kuratiert die Shanghai Biennale und arbeitet in der Kölner Kunsthochschule für Medien.
  • In diesem Gastbeitrag der Serie „Geteilte Beobachtungen“ schreibt sie, wie die Chinesen im Internet auf die Corona-Krise reagiert haben.
  • Hacker-Communities gehörten zu den ersten, die mit kreativen Lösungen auf die Pandemie reagierten.

Köln – Ich schrieb diesen Artikel Anfang März, nachdem ich den gesamten Februar damit verbracht hatte, voller Sorge die niederschmetternden Nachrichten zu verfolgen und mich einigen, wenn auch begrenzten, Hilfsaktionen aus Europa anzuschließen. Doch eins machte mir in dieser düsteren Zeit Mut: Meine Freund*innen in China stellten zahllose Unterstützungsnetzwerke auf die Beine und setzten alles daran, Spenden für medizinische Versorgung zu sammeln, neue Kommunikationswege zu schaffen, psychologische Unterstützung zu organisieren und vieles mehr. Die Krise scheint den Gemeinschaftssinn in uns neu geweckt zu haben. Hoffen wir, dass er uns auch in besseren Zeiten erhalten bleibt.

Die Covid-19-Pandemie stellte das chinesische Gesundheitssystem massiv auf die Probe. Die eisernen Gegenmaßnahmen – eine Massenquarantäne der gesamten Provinz Hubei und Ausgangssperren für Millionen von Chines*innen – brachten den Alltag urplötzlich zum Stillstand. In dieser Ausnahmesituation entstanden neue Formen der sozialen Zusammenarbeit: von Regierungsbehörden und Medienunternehmen über Nichtregierungsorganisationen und Erste-Hilfe-Gruppen bis zu Alumni-Netzwerken und selbst organisierten Freiwilligen-Gruppen. Ehrenamtliche Arbeit hat in China eine lange Tradition. Dieses Mal allerdings wurde sie in nie dagewesener Art und Weise von neuartigen Formen der organisatorischen Zusammenarbeit getragen und vorangetrieben. Im Folgenden werden einige dieser sozialen Netzwerke vorgestellt.

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Die Internet- und Hacker-Communitys gehörten zu den ersten, die mit kreativen Netzwerk-Lösungen auf die Krise reagierten. Wuhan2020 ist die größte Open-Source-Initiative, die auf einer Plattform in Echtzeit Daten für Krankenhäuser und Fabriken bereitstellt und damit eine reibungslose Organisation von Materialbeschaffung und Spenden ermöglicht. Es verbindet Bedürftige mit denjenigen, die in der Lage sind zu helfen. Außerdem organisierte die Gruppe den Hackathon Hack for Wuhan, bei dem Entwickler*innen, Designer*innen und Erfinder*innen aus der ganzen Welt gemeinsam an technischen Lösungen für die aktuelle Ausnahmesituation tüfteln. Zu den Früchten ihrer Zusammenarbeit zählen unter anderem eine Plattform, die sich der psychischen Gesundheit während des Lockdowns widmet, integrierte Informationssysteme zum Echtzeit-Tracking der Ausbreitung des Virus sowie ein virtueller Kiosk, in dem – teils herzerwärmende – Geschichten über gegenseitige Hilfe in Zeiten von Corona ausgetauscht werden.

Doch Peer-to-Peer-Netzwerke brauchen nicht zwangsläufig eine ausgeklügelte technische Informationsstruktur. Unmittelbar nachdem der öffentliche Nahverkehr in Wuhan lahmgelegt worden war, stellten zahllose Stadtbewohner einen freiwilligen Chauffeurdienst auf die Beine. Restaurants boten Arbeitsessen an, und Hotelbesitzer*innen schlossen sich zu einem Netzwerk zusammen, um in der Nähe arbeitenden Mediziner*innen Ruheräume zur Verfügung zu stellen – all das Tage bevor die Regierung offizielle Maßnahmen ergriff.

Als Tonnen von Gemüse aufgrund der Stilllegung des Großhandels auf ländlichen Bauernhöfen zu verrotten drohten, rief Pinduoduo, eine bekannte E-Commerce-Plattform für Gruppenkäufe, am 10. Februar eine Kampagne ins Leben, um den Landwirt*innen den Verkauf ihrer Waren an städtische Gruppenkäufer*innen zu ermöglichen. Bäuer*innen, die ihre Waren via Livestream aus dem Lager potenziellen Käufer*innen im ganzen Land präsentieren – das ist bei chinesischen E-Commerce-Plattformen schon seit einer Weile gang und gäbe. In diesem Fall nahm das Livestream-Marketing jedoch neue Dimensionen an.

Natürlich kann man der Plattform-Wirtschaft auch kritisch gegenüberstehen. Verfechter der modernen Datenwirtschaft bezeichnen die Übertragbarkeit und Kompatibilität von Daten als Schlüsselmerkmale der Datenindustrie der nächsten Generation. Doch die Fallbeispiele aus China zeigen, dass es weit mehr zu teilen gibt als Daten – und zwar auf faire Art und Weise, sodass alle davon profitieren. Viele glauben, dass diese Form der Zusammenarbeit die Krise überdauern und sich als nachhaltige gesellschaftliche Praxis etablieren wird.

Die ganze Welt schaut auf Chinas drastische Corona-Maßnahmen, mal mit Ehrfurcht, mal mit Kritik. Doch auch unterhalb der staatlichen Ebene wird gegen das Virus gekämpft. Eine bedeutende Rolle spielt dabei stets die Dezentralisierung, die – und das ist ein wichtiger Punkt – eine Zusammenarbeit mit sozialen, wirtschaftlichen und staatlichen Akteure auf anderen Ebenen nicht kategorisch ausschließt. Es handelt sich um vertikal und horizontal organisierte soziale Unterstützungsnetzwerke, die für die Bedürfnisse einer möglichst breiten Interessengruppe einstehen. Sie entstehen ad hoc, und einige von ihnen werden nun, da die Situation sich entspannt, nicht mehr gebraucht. Doch die sozialen Netze, die diese Initiativen gewebt haben, werden fortbestehen und neue Aufgaben annehmen.

ZUR SERIE

Mi You ist Kuratorin, Forscherin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunsthochschule für Medien Köln. Sie leitet Arthub in Shanghai und gehört zu den Kuratoren der 13. Shanghai Biennale (2020-21).

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf konkrete Lebensverhältnisse aus? Wie wirkt das Globale im Lokalen? Unter dem Titel „Geteilte Beobachtungen“ versammelt die Akademie der Künste der Welt in Kooperation mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ Texte von Mitgliedern der Akademie. Als nächster Text erscheint „ensemble/zusammen“ von Monika Gintersdorfer.

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