Historiker Wolfgang Benz„Björn Höcke ist bekennender völkischer Rassist – wie Hitler“

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Historiker Wolfgang Benz

Historiker Wolfgang Benz

Herr Professor Benz, als ich zur Schule ging, lernten wir, die Ereignisse im November 1938 keinesfalls als „Reichskristallnacht“ zu bezeichnen, der Begriff sei euphemistisch. Heute liest man häufig „Reichspogromnacht“. Welche Bezeichnung präferieren Sie?

Viele sind empört, wenn man von Reichskristallnacht spricht. Das ist aber kein Nazi-Begriff. Ich habe bei einer Tagung in Israel israelische Bürger, die früher Deutsche waren, nur von der Reichskristallnacht sprechen hören. Das war kein Tabu. Aber ganz richtig ist es dennoch nicht, diesen Begriff zu gebrauchen, da sich das schreckliche Geschehen über Tage und Nächte hinzog. Reichspogromnacht wiederum ist eine nachträglich konstruierte Bezeichnung im Nazi-Jargon, und deshalb vollkommen unmöglich. Bei den Nazis wurde alles, was erhöht sein sollte, mit dem Zusatz Reich versehen. Wenn man nun dieses Wortungetüm nutzt, veredelt man das Geschehen unbewusst, obwohl man das Gegenteil erreichen will. Die beste Bezeichnung ist Novemberpogrome.

Sie bezeichnen diese Pogrome in Ihrem neuen Buch als „Initial“ zum Holocaust.

Ja, denn bis zum November 1938 fand die Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden auf formal „korrektem“ Wege durch Gesetze und Verordnungen statt. In diesen Tagen schlug sie in physische Gewalt um. Das war der Scheitelpunkt. Diese Pogrome waren staatlich inszeniert auf Billigung und Anregung des Diktators und wurden nach einer aufhetzenden Rede des Propagandaministers an die Kader durchgeführt.

Waren die Pogrome eine Art Test, um zu schauen, wie das Ausland und die Deutschen reagieren?

Es war weniger ein Test auf die Stimmung des Auslands. Die war den Nazis 1938 schon egal. Darauf kam es nicht mehr an. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass Protesten des Auslands keine Taten folgten. Sie wussten, sie konnten im Inneren tun, was sie wollten.

Also ging es vor allem um die Reaktion der Deutschen?

Ja, das sehe ich unbedingt so. Es war der Test auf die Stimmung der Deutschen. Der Boykott 1933 war auf ziemliche Ablehnung gestoßen, den hatten die Nationalsozialisten sehr schnell wieder abgebrochen. Nun, fünf Jahre später, wurde das Attentat eines 17-jährigen Juden von der Propaganda hochgedonnert zur Tat des internationalen Weltjudentums gegen Deutschland. Es gab einen Anlass und nun testete man die Stimmung. Und diesen Test haben die Deutschen in ihrer Mehrheit grandios verloren.

Sie berichten von lediglich einzelnen Protesten gegen die Pogrome in Deutschland. Gab es denn keinen größeren Widerstand?

Nein, es gab keine anderen als individuelle Proteste. Es gab mutige Pfarrer, die von der Kanzel herab darauf hinwiesen, dass großes Unrecht geschehen war. Sie wurden alle von ihrer Amtskirche im Stich gelassen. Es gab keinen gesellschaftlichen Protest. Es gab einige wenige, die sich geschämt haben, die kleine Zeichen der Solidarität gezeigt haben. Das führte dann zu der Lebenslüge vieler, die Nazis hätten ganz furchtbar gewütet, während sich die Mehrheit der Deutschen geschämt habe.

Wie konnte es so weit kommen, dass „normale“ Bürger ihre Nachbarn angriffen, deren Eigentum zerstörten, sie durch die Straßen trieben?

Die Ansteckungskraft des Pogroms – und da denkt der Historiker natürlich auch an Chemnitz und Rostock-Lichtenhagen – war enorm, das war auch ein Volksfest. Man spendete dem Mob Beifall. Das wilde Tier bricht dann hervor. Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Wir müssen ihn uns jeden Tag neu erkämpfen, damit die Barbarei nicht losbricht.

Waren die Novemberpogrome der Moment, in dem auch der Durchschnittsdeutsche hätte erkennen müssen, welche Ziele die Nationalsozialisten verfolgten?

Zweifellos. Damals zeigte staatliche Regie, dass man zum Äußersten, zur physischen Vernichtung einer Minderheit, bereit war. Das war allen, die es sehen wollten, im November 1938 klar. Da konnte sich keiner herausreden, das sei ja nicht so schlimm gewesen.

Lassen Sie uns über Antisemitismus in Deutschland in der Gegenwart sprechen. Nimmt er wieder zu?

Ich erforsche das seit langer Zeit. Alle zehn Jahre wird ein neuer Antisemitismus entdeckt, der aber immer der alte ist. Es sind immer dieselben Ressentiments und Stereotype. Und alle zehn Jahre wird auch gesagt, der Antisemitismus sei so stark wie nie. Belastbare Zahlen sagen aber, dass der Grad antijüdischer Einstellungen gleichbleibt.

Die öffentliche Wahrnehmung ist eine andere.

Auch weil so viel darüber berichtet wird. Ich stelle fest, und das ist positiv: Es ist viel leichter, Menschen zu sensibilisieren. Das muss so sein. Aber Gott sei Dank gibt es keine Belege, dass der Antisemitismus sich immer mehr ausbreitet.

Eine erhöhte Sensibilität ist doch wünschenswert.

Diese Sensibilität ist unbedingt notwendig. Aber sie darf nicht ausschließlich einer Gruppe gelten. Es ist widersinnig, sensibel gegenüber Antisemitismus zu sein, und dann aber grobschlächtig allen Muslimen vorzuwerfen, sie seien dumm und assimilierten sich nicht. Das passt nicht zusammen. Muslimhetze ist bei weitem nicht so verpönt wie Antisemitismus in Deutschland.

Sehen Sie die Gefahr eines importierten Antisemitismus durch Flüchtlinge aus islamischen Ländern?

Nein, diese Gefahr sehe ich nicht. Wir haben riesige Probleme mit jungen Männern aus Syrien, die schreckliche Dinge tun wie kürzlich in Freiburg. Das hat aber nichts mit dem Islam zu tun, das hat mit desorientierten und traumatisierten jungen Leuten zu tun, die mit ihren Trieben nicht umgehen können.

Zur Person und zum Vortrag in Köln

Der Historiker Wolfgang Benz (76) forscht über Vorurteile und Antisemitismus. Er lehrte bis 2011 als Professor an der TU Berlin und leitete das Zentrum für Antisemitismusforschung. Gerade erschienen ist sein neues Buch „Gewalt im November 1938 – Die »Reichskristallnacht« Initial zum Holocaust“, Metropol Verlag, 232 Seiten. 19 Euro

Am Mittwoch, 7. November, hält Benz den Vortrag „Die »Reichskristallnacht« im November 1938: Inszenierte Gewalt gegen Juden“ im NS-Dokumentationszentrum. Beginn 19 Uhr.

Mindestens 127 Menschen kamen im Zuge der Novemberpogrome von 1938 auf dem Gebiet des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen ums Leben – das ist das Ergebnis eines landesweiten Forschungsprojekts der Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf. (amb)

Aber es stimmt doch, dass viele Flüchtlinge aus diesem Raum antisemitisch eingestellt sind.

Dass diese Leute per Sozialisation Hass auf Israel haben, steht fest. Das ist klar und hier nicht tolerierbar. Die sehen Israel als den Schurkenstaat. Das muss man per Aufklärung und mit politischen und wenn nötig juristischen Mittel bekämpfen. Im Übrigen ist der muslimische Antisemitismus eine Importware. Aber nicht eine, die wir Europäer aus dem islamischen Kulturkreis importieren, sondern eine, die die Muslime aus Europa importiert haben.

Erklären Sie das bitte genauer.

Die Protokolle der Weisen von Zion“, die ganzen unsäglichen Vorwürfe gegen die Juden sind in Deutschland, Österreich, Russland, Frankreich und Polen ausgekocht worden und nicht in Kairo oder Damaskus. Der islamische Kulturkreis kennt diesen Rassismus und Nationalismus, der bei uns im 19. Jahrhundert als große Errungenschaft gefeiert wurde, ursprünglich nicht. Aber Muslime haben sich das im Kampf gegen Israel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angeeignet. Wer jetzt auf Flüchtlinge zeigt und sagt, sie brächten Antisemitismus ins Land, will nur ablenken. Ich empfehle, den eigenen Antisemitismus unter die Lupe zu nehmen, da findet sich genug.

Wie beurteilen Sie als Historiker, der Vorurteile erforscht, den Aufstieg der AfD?

Das bereitet mir erhebliche Sorge. Ich beobachte seit 40 Jahren das Auf und Ab des Rechtsextremismus in Deutschland. Ich sehe jetzt eine neue, bedrohliche Qualität, weil er erstmals die Mitte der Gesellschaft erreicht hat. Die NPD und andere Gruppierungen saßen in der rechten Schmuddelecke. Jetzt wählen Leute, die gestern noch die SPD gewählt haben, die AfD. Da gehen Grundwerte und Grundorientierung verloren. In der AfD ist schon die Muslimfeindschaft schlimm genug, um sie als rechtsradikale, undemokratische Partei zu charakterisieren. Aber in deren Reihen gibt es auch bekennende Antisemiten, von denen sich die Parteileitung nicht distanziert.

Welche Folgen hat das?

Der thüringische Fraktionsvorsitzende Björn Höcke etwa ist ein bekennender völkischer Rassist. Das ist etwas Ähnliches wie das, was Hitler 1919 gewesen ist. Adolf Hitler hat 1919/1920 nicht als Menschheitsverbrecher agiert, das tat er später. Zu Beginn war er Populist, auch wenn man das damals Demagoge nannte. Und wenn man heute abzuwiegeln versucht und sagt, die AfD sei nicht so gefährlich, das seien ja nur Populisten, dann ziehe ich die Augenbrauen hoch und frage: Was heißt da nur? Das Unglück hat damals mit Populismus, Provokation und der zum Prinzip erhobenen Lüge begonnen. Und dass innerhalb von zwei Jahren diese neue Richtung so erfolgreich ist, erfüllt mich zum ersten Mal mit wirklicher Sorge.

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