Interview mit Frank Schätzing„Köln hat zu wenig Vision und keinen Masterplan“

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Frank Schätzing

  • Köln könnte bis 2030 die futuristischste, nachhaltigste Metropole Deutschlands werden.
  • Der in der Südstadt lebende Autor Frank Schätzing, der gerade das Buch „Was, wenn wir einfach die Welt retten?“ bei Kiwi herausgebracht hat, hätte da einige Ideen.
  • Ein ausführliches Gespräch mit dem Thriller-Experten über Gefahren der Klimakrise, die unterschätzte Corona-Pandemie und die Vorzüge und Nachteile seiner noch zu wenig umweltbewussten Heimatstadt Köln.

Herr Schätzing, Sie haben es mit Katastrophen, in Ihren Romanen wie in Ihrem neuen Sachbuch über den Klimawandel. Es erscheint mitten in der Pandemie. Auch das eine Katastrophe – mit Ansage? Frank Schätzing: Mit deutlicher Ansage, die aber verhallte. Pandemien sind nicht der Typ Katastrophe, auf den man gut vorbereitet ist.

Es gibt eine Typologie der Katastrophen?

Sicher: unerwartete, sich ankündigende, heraufbeschworene, verdrängte, geleugnete, eindeutige, mehrdeutige Katastrophen. Der Höhlenmensch, der wir immer noch sind, reagiert vor allem auf die eindeutige Variante. Je klarer und unmittelbarer die Gefahr, desto entschiedener handeln wir, erst recht, wenn sie bildlich in uns abgespeichert ist. Ein Foto reicht, um auszudrücken: Waldbrand. Sturmflut. Krieg. Hunger. Alien-Invasion. Aber was ist das ikonische Bild für eine globale Pandemie? Diese Bilder müssen wir erst noch erlernen. Zudem gab es keine Referenz, also waren wir schlecht vorbereitet. Es fehlte die Gebrauchsanweisung.

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Es gab doch seit langem die Warnungen der Wissenschaftler. Der Bundestag hat schon vor Jahren komplette Pandemiepläne beschlossen.

Die scheinen nicht durchweg bekannt gewesen zu sein. Jedenfalls wurden sie nicht in langfristige Strategien umgesetzt.

Warum nicht?

Vielleicht, weil wir in unserer westlichen Komfortzone die Illusion pflegen, bestimmte Katastrophen würden gar nicht erst bis zu uns vordringen. Epidemien, Hunger – mit so was kämpfen sie anderswo. Wobei man sagen muss, dass Bund und Länder zu Beginn der Pandemie vorbildlich gehandelt haben. Dann kam der Sommer, niedrige Inzidenzen, man ließ die Zügel schleifen, es geschah, was in Deutschland zu oft geschieht.

Nämlich?

Nichts. Wir legen tolle Starts hin und verschenken alle Chancen. Statt weitsichtiger Pläne Visionslosigkeit, Überbetonen von Augenmaß und Auf-Sicht-fahren. Wir hinken unserem Potenzial mutlos hinterher.

Ein Beispiel?

Die Mikroelektronik. Deutschland ist weltdrittgrößter Importeur von Mikrochips, meldet Jahr für Jahr Patente für Halbleitertechnologien an, ist als Produzent aber weit abgeschlagen. Das ist leider symptomatisch. Wir sind überbürokratisiert, verlieren uns in zähen Genehmigungsverfahren und Bedenkenträgerei. Darunter leidet der Innovationsstandort Deutschland, leidet die grüne Wende, leidet die Pandemie-Politik. Im Frühjahr 2020 schaute die Welt bewundernd auf das deutsche Krisenmanagement. Heute fragt sie sich, wie wir so zurückfallen konnten. Epidemologen haben schon vergangenen Sommer weitere Wellen vorausgesagt und rasche, flächendeckende Testungen gefordert. Stattdessen hangelten wir uns von Lockdown zu Lockdown. In den Bund-Länder-Konferenzen ging es zu wie auf dem Basar, Beschlüsse wurden unterlaufen, den Rest kassierten die Gerichte. Als wäre Viren mit der Verfassung beizukommen.

Sondern?

Spätestens diesen März hätten wir in den harten Lockdown gehen müssen. Die Mehrheit wäre dazu bereit gewesen. Lassen wir uns nicht von der kleinen „Wir sind das Volk“ schreienden Pöbeltruppe irritieren, die dem Volk die Solidarität aufkündigt. Menschen ertragen vieles. Nur kein planloses Hin und Her.

Und jetzt?

Müssen wir durchhalten. Die Impfstoffentwicklung zeigt, dass Deutschland Fortschritt kann. Ihn langfristig zu managen – daran müssen wir arbeiten.

Auch Köln hat es nun mit Härte versucht – sogar schon vor dem Beschluss der „Bundesnotbremse“. Damit sind Sie einig? So erratisch, wie das hier lange Zeit lief, bin ich froh, dass die Stadt jetzt konsequent die Zügel anzieht.

Dann hat Ihnen die Video-Aktion #allesdichtmachen mit ihrem Protest gegen die harte Linie der Regierung bestimmt nicht gefallen?

Ich fand sie verunglückt. Ebenso verunglückt finde ich die Art und Weise, wie auf die Beteiligten eingeprügelt wird. Einige kenne ich persönlich, und da ist niemand auch nur ansatzweise rechten Gedankenguts verdächtig. Zu fordern, diesen Leuten keine Rollen mehr zu geben, hat was von Lynchjustiz. Die Nerven liegen blank, da geht‘s halt kontrovers zu. So what? Können wir nicht freundlicher miteinander umgehen? Einander zuhören, statt den anderen gleich für seine Meinung zu hassen, unter Shitstorms zu begraben, möglichst auszulöschen? Dieser Niedergang unserer Debattierkultur ist die eigentliche Krise.

Wie sehr sorgen Sie sich um die Kultur?

Kultur ist das Rückgrat unserer Gesellschaft, die scharfe Klinge gegen Verdummung, Populismus, autoritäre Regimes. Wenn wir Kultur nicht als systemrelevant begreifen, werden wir intellektuell verarmen. Bislang habe ich dazu seitens der Politik außer verständigem Kopfnicken wenig gesehen. Manche meiner Freunde – Musiker, Toningenieure, Schauspieler – mussten monatelang auf die groß annoncierten Hilfen warten. Gerade im Kulturbetrieb sind die Finanzdecken hauchdünn. Was geschehen muss, hat Joe Biden auf eine griffige Formel gebracht. „Shots in arms, and money in pockets“ – Impfstoff in den Arm, Geld in die Tasche.

Kommen wir zu der anderen großen Katastrophe – der Klimakrise. Wie kam es dazu, dass Sie dafür Ihre Arbeit an einem neuen Thriller unterbrochen haben?

Als 2020 Vorschläge die Runde machten, dem Klimaschutz die Mittel zu streichen, weil die Pandemie so teuer wird, platzte mir der Kragen. Klimawandel ist die existenziellere Bedrohung. Ich dachte, du musst was tun.

Für das ernste Thema ist Ihr Buch auffallend unterhaltsam.

Ach, so außergewöhnlich finde ich das gar nicht. In jedem „Tatort“ wird das blanke Grauen – Mord, Totschlag, Folter – unterhaltsam verhandelt. Seit unsere Vorfahren einander am Feuer Geschichten erzählten, geht es darum, das Publikum zu fesseln. Auch die Wirklichkeit ist eine Geschichte, die so erzählt werden will, dass Menschen hinhören. Im Unterschied zur Fiktion löst sich im realen Thriller allerdings kaum etwas auf: Klimawandel, Pandemie, Flüchtlinge, Rezession, der Druck nimmt zu. Dem standzuhalten gelingt nur, indem wir das Schlimmste einfach mal geschehen lassen – mit den Mitteln der Fiktion. Geht die Welt unter, im Buch, im Film, dann kann das sehr befreiend sein. Ein Weltuntergang hingegen, der sich dauerankündigt, ohne einzutreten, macht uns mürbe.

Das Zeugen-Jehovas-Phänomen einer ständig verschobenen Apokalypse?

Genau. Als ich klein war, klingelten die mit ihrem „Wachtturm“ regelmäßig bei uns an der Tür. Ob wir uns schon Gedanken über das Ende der Welt gemacht hätten. „Haben wir“, sagte mein Vater, „es findet ohne uns statt“. Ich dachte in meinem Kinderkopp, die müssen doch kirre werden! Sich ständig auf das Ende vorbereiten, und dann passiert nix. Also habe ich das Worst-Case-Szenario, das der Weltklimarat derzeit für wahrscheinlich hält, detailliert beschrieben, streng wissenschaftlich auf Basis der Weltklimaberichte des IPCC, aber im Modus einer Netflix-Thriller-Serie. Man durchlebt das Desaster, atmet tief durch und sagt: Okay, kapiert. Was kann ich tun?

Wird Ihr Vater recht behalten?

Noch liegt es an uns, die Richtung zu wechseln. Wir haben so viele Lösungsmöglichkeiten wie nie. Mir liegt daran, dass Menschen die Bedrohung durch den Klimawandel besser verstehen und die Vielzahl ihrer Optionen kennen.

Was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten überrascht?

Zweierlei: Was uns konkret blüht, wenn wir die Erderwärmung nicht bei maximal zwei Grad begrenzen. Dagegen ist jeder Roland-Emmerich-Film die reinste Wohlfühl-Utopie. Manches wusste ich, in der Drastik hat es mich aus den Socken gehauen. Und dann hat mich überrascht, dass die US-Ölindustrie – ExxonMobil und Texaco – ihre Forschungsabteilungen schon um 1960 mit Studien über die Folgen einer ungebremsten Freisetzung von CO2 bei exponentiell wachsendem Autoverkehr beauftragt hat. Das Ergebnis: Erwärmung der Atmosphäre, Anstieg der Meere, Gefährdung unseres Lebensraums spätestens um das Jahr 2000. Die Wissenschaftler empfahlen dringend, alternative Antriebe zu entwickeln. Die Konzerne packten die Studien in den Giftschrank und starteten eine gigantische, bis heute nachwirkende Fake-News-Kampagne zur Diskreditierung ihrer eigenen Forschung, letztlich der gesamten Klimaforschung.

Wenn Sie von den bösen Öl-Multis reden, ist Ihnen viel Beifall gewiss. Dagegen dürften Sie es sich mit vielen verscherzen, weil Sie doch tatsächlich für die Nutzung der Atomkraft plädieren.

Das sagt Ida, ein fiktiver Charakter im Buch. Für die Meinungen meiner Figuren bin ich nicht verantwortlich. Was die so alles von sich geben …

… Netter Versuch!

Spaß beiseite. Tatsächlich bin ich der Ansicht, dass wir jede Technologie, die uns helfen könnte, die Erderwärmung zu stoppen, immer aufs Neue den Prüfstand stellen sollten. Wir können es uns nicht leisten, Optionen außer Acht zu lassen. Als Jugendlicher war ich selbst in der Anti-AKW-Bewegung. Ich weiß, viele heutige Ressentiments gründen auf einer veralteten Wissenslage. Inzwischen gibt es neue, weniger riskante Konzepte. Wäre ihr Einsatz erforderlich, um eine Katastrophe abzuwenden, die uns unserer Lebensgrundlagen zu berauben droht, muss man das ohne Empörungsgebärden diskutieren. Gelangen wir zu dem Schluss, dass die Risiken immer noch nicht vertretbar sind, Finger weg!

Am 22. April haben sich die Mächtigen der Welt auf Einladung von US-Präsident Joe Biden zu einem „Klima-Gipfel“ getroffen. Was war aus Ihrer Sicht die wichtigste Botschaft?

Dass der Gipfel überhaupt stattgefunden hat. Das war bei weitem mehr, als man sich unter der Ägide des toupierten Esels vorher hätte träumen lassen. Weiß man, dass die „Heritage Foundation“, Amerikas mächtigster konservativer Think-Tank, Donald Trumps komplettes Kabinett mit Klimaleugnern besetzt hat, bekommt man eine Ahnung von der kriminellen Energie, mit der da Klimaschutz hintertrieben wurde. Biden steht für Aufbruch.

Glauben Sie wirklich an eine Wende zum Besseren?

Ja, weil die „Green Deals“ mehr werden. Weil Regierungen verstehen, dass Klimarisiken Wohlstandsrisiken und damit politische Risiken sind. Wer seine Wirtschaft bis 2030 nicht auf Grün umstellt, wird zu den Verlierern der Nachhaltigkeitswende gehören. Wir erleben den Beginn eines ökonomischen Wettlaufs, der ökologisch getrieben ist: Klimaschutz aus Pragmatismus. Xi Jinping, Chinas Präsident, will ebenso wenig als derjenige dastehen, der hinterherhinkt, wie Yoshihide Suga in Japan, wie Südkorea, die EU. Jeder will Nummer eins im Klimaschutz werden! Ausgerechnet der Umweltsünder China könnte so zum Top-Exporteur grüner Technologien werden.

Der deutschen Politik macht jetzt das Bundesverfassungsgericht Beine. Wie sehen Sie das Urteil? Klimaretter Karlsruhe?

Klasse! Es kann ja nicht sein, dass wir bis 2030 unser Emissionsbudget verprassen und junge Menschen dann unter radikalen Einbußen von Lebensqualität und Freiheit eine Krise meistern müssen, die sie nicht verursacht haben. Gewohnheitsmäßig schlagen Politiker den Rat von Experten in den Wind, wenn er ihnen nicht in den Kram passt. Die Botschaft aus Karlsruhe ist eindeutig: Schluss damit! Macht euren Job!

Nach Ihrer Schilderung kommt es aber schon sehr darauf an, wer in einem Land das Sagen hat. „Wählen gehen, ist der erste Schritt, um Druck aufzubauen“, schreiben Sie. Ihr Buch, ein Plädoyer für eine grüne Kanzlerin?

Die bedarf dieses Plädoyers womöglich nicht mehr (lacht). Ja, ich halte Annalena Baerbocks Nominierung für ein tolles Signal. Die Grünen sind längst keine Nischenpartei mehr. Hört man Baerbock aufmerksam zu, erlebt man eine glühende Verfechterin des Innovations- und Technologie-Standorts Deutschland. Das klingt fast wie gute Science-Fiction.

Aber sie hat doch …

… keine Regierungserfahrung? Interessant, die Reflexhaftigkeit, mit der sich Olaf Scholz und Armin Laschet darauf stürzen. Das zeigt, für wie gefährlich sie ihre grüne Konkurrentin halten. Wenn dann noch Oskar Lafontaine sein greises Haupt hebt und ihr die Kanzlertauglichkeit abspricht, wird es echt satirefähig: ein gescheiterter Kanzlerkandidat und Drückeberger, der sich aus der Regierungsverantwortung gestohlen hat. Fakt ist, Baerbock hat Robert Habeck an ihrer Seite, und der hat Regierungserfahrung. Sie sind das beste grüne Team seit langem.

Sie sagen, die Grünen hätten sich vom Konzept der Klientelpartei verabschiedet. Dafür haben sie ein Wohlfühl-Programm vorgelegt, das niemandem weh tut und allen etwas bietet. Zu wenig für ein Umsteuern in der Klimapolitik, oder nicht?

Ich denke eher, sie versuche sich an einem integrativen Konzept, um einen breiten Konsens im Klimaschutz zu erzielen. Aber Sie haben natürlich Recht: Die fiesen Wahrheiten, die Wählerstimmen kosten, haben die Grünen bislang eloquent vermieden. Baerbock muss jetzt aus dem Wolkigen ins Konkrete finden. Auch, damit ihr nicht der Schulz-Effekt blüht.

Sie sprechen in Ihrem Buch von „fröhlichen Klimarettern“ – und meinen auch den persönlichen Beitrag jedes Einzelnen.

Ja. Wir müssen die „Schuld und Scham“-Debatten beenden. Nicht moralisieren, uns nicht in großkotzigen ideologischen Umbauplänen verlieren. Priorität hat, die verdammte Erderwärmung zu stoppen, sonst ist alles Weitere obsolet. Dafür sollten wir die Nachhaltigkeitsbemühungen der Menschen anerkennen, statt ständig an ihnen herumzunörgeln. Sie motivieren, noch weiter zu gehen. Und Klimaschutz dabei nicht entpolitisieren, nach dem Motto: „Der Bürger wird’s schon richten, er muss nur auf die Wurst verzichten.“ Die großen systemischen Wendemanöver müssen Politik und Wirtschaft fahren. Die Politik muss mutiger und radikaler handeln.

Geht das ohne Verbote?

Ich glaube, das mit den Verboten wird oft missverstanden. Dass man den Menschen das Auto, ihr Häuschen, ihr Leben wegnehmen wolle. Es geht eher um Regularien. Ab 2025 darf in Schweden kein Neuwagen mit Verbrennermotor mehr verkauft werden. So was ist sinnvoll. Dafür muss der Staat der Automobilindustrie Planungssicherheit geben, explizit durch den Ausbau grüner Ladestationen. Menschen müssen bereit sein, E-Autos zu kaufen, sprich, der Preis muss stimmen. Klimarettung funktioniert nur im Dreiklang von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik; in der Überwindung des Schlechteren durch das Bessere. Menschen mit Verboten zu überziehen, davon halte ich wenig. Klimaschutz braucht mündige Bürger, die aus Überzeugung handeln.

Überzeugungen, die bei 40 Cent mehr fürs Kilo Fleisch oder Wurst enden? Stichwort Tierwohlabgabe.

Solange wir den Wert der Dinge ausschließlich nach dem jeweils billigsten Angebot bemessen, vernichten wir unsere Lebensgrundlagen und fördern die Ungerechtigkeit. Würden wir unseren Landwirten faire Preise zahlen, könnten sie sich ökologische Landwirtschaft leisten. Grundsätzlich geht es nicht um kategorischen Verzicht, sondern darum, Maß zu halten und Qualität wieder über Quantität zu stellen. Die Erzählung vom ewigen Wachstum, wonach alles zu jeder Zeit in unbegrenzter Menge zum Geiz-ist-geil-Tarif verfügbar ist, ist auserzählt.

Aus eigener Erfahrung kann ein Verbot der deutlich wirksamere Hebel sein als Überzeugungsarbeit. Seit die Plastiktüten im Supermarkt verboten sind, nimmt man ganz selbstverständlich den Stoffbeutel von zuhause mit.

Weil er als bessere Lösung überzeugt. Das berührt den Kern des Problems: Die Widerstände vieler Menschen gegen Regularien entspringen ja nicht Ignoranz oder Bösartigkeit, sondern der Angst um den eigenen geschützten Raum, um die kleine sichere Welt, die man für sich und die Familie geschaffen hat. Was soll an deren Stelle treten? Niemand steht gerne nackt im Wind. Man muss den Menschen gute Alternativen bieten, und ein Verbot ist kein Angebot. Wenn wir nichts Besseres zu bieten haben als die ewige Predigt vom Verzicht, gewinnen wir keine Verbündeten.

Was wäre denn die überzeugende Alternative?

Der Klimaschutz selbst. Klimaschutz ist eine Wachstumsbranche, die Millionen Arbeitsplätze und gute Löhne bereithält. Die Alternative heißt: mehr Lebensqualität, mehr Gerechtigkeit, mehr Wohl für Natur und Mensch, mehr Zukunft für kommende Generationen. Das ist alles konkret belegbar und muss stärker kommuniziert werden. Klimaschutz ist Fortschritt. Fortschritt bedeutet: Chance!

Verbote also weniger für die Verbraucher als für Produzenten?

Die Industrien sind in der Pflicht, nachhaltige Wertschöpfungsketten aufzubauen. Die Politik muss die Randbedingungen schaffen. Der Einzelne muss sein Konsumverhalten ändern. Politik und Wirtschaft haben sich zu lange darauf zurückgezogen, mit ihren Entscheidungen und Produkten dem nachzukommen, was „die Menschen wollen“. Klimaschutz gestalten heißt, dieses Argument nicht länger zu bedienen. Man kann entscheiden, ob man Nahrungsmittel aus klimaschädlicher Massenproduktion oder Bio kauft, Drei-Euro-Shirts oder fair gehandelte Mode. Man kann auch entscheiden, welche Politiker man wählt.

Was sagen Sie Familien, die sich Bio und Fair Trade nicht leisten können?

Dass jeder kleine Schritt, den sie im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten tun, Respekt verdient. Bund und Ländern sage ich, dass sie solche Familien mit Nachhaltigkeitsbeihilfen unterstützen müssten, damit sie sich Bio oder Fair Trade eben doch leisten können.

Was haben Sie bei sich verändert?

Nicht die eine große Sache. Vieles, über Jahre hinweg. Meine Frau und ich gehen in die kleinen Läden, wo einem der Gemüsehändler stolz erklärt, dass die Paprika da aus einem winzigen Dorf in der Eifel stammt und „total jot“ schmeckt. Wir kaufen Bio beim Metzger unseres Vertrauens, fahren kaum noch Auto, fliegen nicht, stellen unsere Energieversorgung sukzessive auf Grün um. Wir tun alles Mögliche - und immer noch zu wenig.

Kommen wir nochmal auf Köln. Was wünschen Sie sich für die Stadt?

Etwas mehr Vision könnte nicht schaden. Weg von der Symbolpolitik und hin zum großen Wurf. Radwege, verkehrsberuhigte Zonen – nichts dagegen, aber vieles wirkt wie reingestreut, ohne Masterplan.

Was wäre der „große Wurf“?

Eine vom Privatverkehr befreite Innenstadt, in der selbstfahrende Cabs alle Mobilitätswünsche erfüllen. Jetzt sagen Sie…

… schöne Träume! Und Sie sagen?

Keine Träume, gibt‘s alles schon. Neubauten sollten natürlich mit Solardächern ausgestattet sein. Aber denken wir mal über die klobigen Paneele mit ihren 18 Prozent Energieausbeute hinaus. Es gibt winzige Solarzellen, die Sie wie Farbe auftragen können und die eine Ausbeute von 40 Prozent liefern. Der Deutzer Hafen könnte zum ersten Kölner Viertel ausgebaut werden, das mehr Energie erzeugt als verbraucht. Köln könnte bis 2030 die futuristischste, nachhaltigste Metropole Deutschlands werden.

Da klingt jetzt glatt Ihre Vergangenheit als Werber durch.

Schauen Sie, im Grunde ist es doch ganz einfach. Jeder Kölner weiß, es gibt zwei Daseinsformen: Köln und Umland. Köln ist Köln, Umland ist alles andere, bis an die Grenzen des beobachtbaren Universums. Doch bei aller Liebe zu Köln sollten wir mehr ins Umland schauen. Lernen, was alles geht. Und es bei uns anwenden. Unsere Stadt hat großartiges Potenzial: die Menschen, das Integrative, die Kreativität. Wir müssen nur etwas weniger den eigenen Bauchnabel besingen und mehr nach den Sternen streben.

Zum Schluss noch eine Vision im Miniaturformat: Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn wir die Zeit von Lockdown und Ausgangsbeschränkungen hinter uns haben?

Auf das erste frisch gezapfte Kölsch im Päffgen. Seit fast einem Jahr habe ich keines mehr getrunken. Kein existentieller Mangel. Aber es nagt!

Dann auf Ihr Wohl – und das hoffentlich bald!

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